Die Frauen von der Beacon Street

flüsterte sie. » Zuerst dachte ich schon. Es begann genau gleich, mit dem schwarzen Rauch. Aber dann wurde es ganz anders. Vielleicht … vielleicht habe ich es dieses Mal nicht richtig gemacht. «
    » Was haben Sie denn gesehen? « , wollte er wissen.
    Sibyl hörte eine winzige Spur von Zweifel in seiner Stimme.
    » Nun « , sagte sie und bemühte sich, Ordnung in das zu bringen, was sie gesehen hatte. » Da war schwarzer Rauch, der sich hin und her wälzte. So fängt es immer an. Und normalerweise trennt sich dieser Rauch irgendwann und gibt den Blick auf die Oberfläche des Ozeans frei. Ich habe gewartet, aber diesmal teilte sich der Rauch nicht. Stattdessen waren da diese Lichtblitze. Im Rauch drin. Fast wie Explosionen, weil es jedes Mal, wenn es wieder einen Blitz gab, so aussah, als würde etwas nach oben geschleudert, irgendwelches Zeug … vielleicht Dreck? Ich weiß es nicht. Aber sicher konnte ich mir nicht sein, weil sich der Rauch nie ganz lüftete. «
    » Und dann? « , drängte er sie weiter, an ihren Lippen hängend.
    » Und dann « , fuhr sie mit einem Stirnrunzeln fort und blickte dabei auf einen Punkt irgendwo zwischen ihnen, während sie versuchte, sich zu erinnern. » Dann, nichts. Die Lichter verschwanden. Der Rauch zog sich zurück. Und dann war es vorbei. Das war alles. «
    Benton sprang mit einem erstickten Knurren auf, als wären seine Gedanken endgültig außer Kontrolle geraten. Wie ein Tiger ging er auf dem kleinen Raum hinter dem Lehnstuhl auf und ab. » Unmöglich « , murmelte er. » Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das sein kann. «
    » Ben! « , rief Sibyl und sprang ihrerseits auf. » Was ist denn? «
    Er kam zu ihr herüber und nahm ihre Hände. Seine Berührung war warm und trocken, beruhigend, und Sibyls Haut prickelte vom Druck seiner Hände. » Die Vision. Sie hat sich verändert, genau wie Sie angenommen hatten. Sie haben gesagt, wenn ich recht habe und die Kugel nur das zeigt, was in Ihrer eigenen Vorstellungskraft existiert, dann würde es sich nicht verändern. Aber wenn sie Ihnen etwas zeigt, das real ist, dann schon. «
    » Ja « , erwiderte sie und blickte fragend in sein Gesicht.
    » Sibyl, ich – es gibt Leute, die sagen, die Psychologie ist keine Wissenschaft. « Er zögerte, packte ihre Hände noch fester. » Aber ich habe mich selbst immer für einen seriösen Menschen gehalten. Einen wissenschaftlichen Menschen. «
    » Natürlich « , bestätigte sie.
    In seiner Stimme vertiefte sich der Hauch von Zweifel. » Wenn das, was Sie sagen, wahr ist … « begann er, unterbrach sich, blickte auf seine Schuhe hinab. Dann schaute er wieder auf. » Ich denke, wir sollten Sie testen. Unter kontrollierten Bedingungen. Dann werden wir es sicher wissen. «
    » Mich testen? « , wiederholte sie. Sein Gesicht war ganz nah an dem ihren, nah genug, dass sie die Beschaffenheit seiner Haut sehen konnte, die Bartstoppeln, die bereits wieder auf den Wangen sprossen. Sie roch den Tabak in seinem Atem.
    Er hielt inne, schaute auf sie hinab, und in seine Augen trat eine Zärtlichkeit, die sie noch nie in ihnen gesehen hatte. Einen quälenden Moment lang hielt er ihrem Blick stand. Sibyl spürte, wie ihr Herz heftig klopfte.
    Benton beugte sich näher zu ihr. » Aber es gibt … « , sagte er zögernd. » Da ist etwas, was ich wohl vorher noch tun muss, fürchte ich. «
    » Was denn? « , fragte sie und hob die Augenbrauen.
    Er strich ganz sanft mit den Fingern an ihrem Kinn entlang und legte die Hand um ihr Gesicht. Seine Daumen streiften tastend ihre Mundwinkel. Sie hielt den Atem an, blickte fragend in seine Augen.
    » Tut mir leid « , flüsterte er. » Aber ich muss einfach. «
    In diesem Moment fand sein Mund ihren, presste sich drängend und mit köstlich prickelnder Wärme auf ihre Lippen. Ihre Augen schlossen sich, und einen kurzen Moment lang genoss sie das Gefühl seiner Lippen auf den ihren, die Nähe seines Körpers, seinen Atem, den sie einatmete. Dann löste er sich von ihr und lächelte sie an.
    » Komm, Sibyl « , sagte Benton. Er nahm ihre Hände und drückte sie. » Wir dürfen keine Zeit verlieren. «

DREIUNDZWANZIG
    Widener-Bibliothek, Universität Harvard, Cambridge,
    Massachusetts, 7. Mai 1915
    G rüppchen von Studenten schlenderten an der Marmortreppe der neuen Bibliothek von Harvard vorbei, die beim Licht der Straßenlaternen rings um den Campus ihre langen Schatten ausstreckte wie Spinnenbeine.
    » Ben « , hub Sibyl an. » Ich weiß nicht recht.