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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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dreißig Zentimeter auf einmal entfernte, hatten die Farbflecke allmählich eine erkennbare Form angenommen. Sobald sie versuchte, nicht mehr die einzelnen Punkte und Farben zu sehen, sondern das Ganze, enthüllte das Gemälde seine innere Struktur – eine schmale Brücke, die sich über einen schimmernden, mit Lilien bewachsenen Teich spannte. Sibyl war von dem Effekt so erstaunt gewesen, dass sie einen kleinen Schrei ausstieß, und als sie das Bild erst einmal wirklich gesehen hatte, verstand sie auch nicht mehr, wie sie es vorher nicht hatte erkennen können.
    In mancher Hinsicht fühlte sich die Benutzung der Kristallkugel ganz ähnlich an – als sehe man etwas, ohne das Gefühl zu haben, dass man etwas sah. Sibyl ließ ihren Blick spielerisch wandern und bemühte sich, statt auf die Oberfläche zu starren, das Spiel von Licht und Schatten in sich aufzunehmen. Zuerst sah sie gar nichts, entspannte bewusst die Augen. Als Mrs Dee ihr die Benutzung der Kugel gezeigt hatte, hatte sie das Hauptaugenmerk auf Konzentration gelegt, doch das kam Sibyl nicht mehr richtig vor. Natürlich war Mrs Dee kein echtes Medium gewesen. Zumindest hatten ihre betrügerischen Methoden schon längst all das verdeckt, was die Frau an echtem Talent einmal gehabt haben mochte.
    Sibyl ließ sich all dies durch den Kopf gehen und schob die Gedanken dann entschlossen beiseite. Das Kerzenlicht brach sich in lauter kleinen Sternchen auf der Oberfläche der Kugel, verschmolz dann zu einem dichteren Netz und wurde ins Innere der Kugel gezogen. Dieses konzentrierte Licht tief im Kern der Kugel begann, vertraute dunkle Rauchschwaden abzusondern. Sibyl stieß einen hörbaren Seufzer der Freude aus.
    » Sibyl? « , fragte Benton besorgt. Als sie nicht reagierte, nahm er einen tiefen Zug von seiner Zigarette und murmelte: » Ich wusste, dass das eine schlechte Idee ist. «
    Im Inneren der Kugel verdichtete sich der schwarze Rauch, er waberte vor und zurück. Ihre Lippen öffneten sich gespannt, als ihr Blick auf die altbekannte Meeresoberfläche traf. Sie wartete und wartete, doch aus irgendeinem Grunde veränderte sich das Bild nicht mehr. Der Rauch blieb, er wälzte sich hin und her, auf und ab, doch es blieb nichts anderes als Rauch.
    Ihre Brauen zogen sich finster zusammen, und Benton rückte näher an sie heran, nahe genug, dass sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte, und er fragte: » Was ist? «
    Dann auf einmal, tief in dem rauchigen Dunst, sah Sibyl flackernde Lichter. Ganze Bündel von flackernden Lichtern. Hier ein Blitz. Dort noch einer. Wie bei einem Gewitter, aber doch nicht ganz, denn es war nicht das gleißend helle Licht eines Blitzes am Himmel, sondern ein heißeres, rötliches Licht, das bei jedem Aufleuchten von winzigen Partikeln begleitet wurde, die durch die Luft flogen, wie Schmutz oder Unrat. All diese kleinen rumpelnden Detonationen, die über mehrere Minuten anhielten, eine nach der anderen, immer innerhalb des Rauches, sah sich Sibyl an. Dann, ohne weitere Klärung oder Erklärung, zogen sich die Lichter langsam wieder in die Rauchschwaden zurück, wurden schwächer, entfernten sich. Der Rauch verzog sich von der Oberfläche der Kugel, bis er ganz verschwunden und die Kugel wieder vollkommen klar war.
    Sibyl seufzte und ließ die Kugel in ihren Schoß sinken.
    » Und? « , drängte Benton sie und stieß das Ende seiner Zigarette aus.
    » Wie bitte? « , fragte sie und schüttelte sich, um wieder wach zu werden. Erschrocken sah sie in Bentons Gesicht, das sie mit diesen forschenden grauen Augen anschaute. Was machte Benton in ihrem Schlafzimmer? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie er hier hereingekommen war. Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam nichts heraus. Rasch sprang er auf und schenkte ihr aus der Karaffe auf dem Spiegeltisch ein Glas Wasser ein.
    Sie trank dankbar und in großen Schlucken, spülte den unangenehmen Nachgeschmack des Laudanums hinunter.
    » Besser? « , erkundigte er sich, während er wieder ihr gegenüber Platz nahm.
    Sie nickte, stellte das Glas beiseite.
    » Ja « , sagte sie, und versuchte sich an einem beruhigenden Gesichtsausdruck. Doch es wurde nur ein besorgtes Lächeln daraus.
    » Also « , begann er. » War es so, wie vermutet? War die Vision die gleiche? «
    Sie sah ihn an, die dunklen Augen weit aufgerissen, und schüttelte den Kopf.
    Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und hob nachdenklich die Hand an sein Kinn. » Wirklich nicht? « , fragte er.
    » Nein « ,

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