Die Frauen von der Beacon Street
seufzte. » Ich weiß nicht, warum es mich überraschen sollte. Seine Neugier war unersättlich. Immer schon. « Dann richtete er den Blick ruhig auf Sibyl, und sie sah, dass seine Augen gerötet waren. » Edwin, Edwin hat es. «
Sibyl biss sich auf die Unterlippe, weil wieder Schuldgefühle, gemischt mit Trauer, in ihr aufstiegen. » Professor Friend « , flüsterte sie. Sie blieb abrupt stehen und schlug die Hände vors Gesicht.
Er hielt inne, schaute nach links und rechts und nahm sie dann rasch in die Arme. » Jetzt komm « , flüsterte er ihr ins Ohr. » Kannst du dir irgendjemanden vorstellen, den der Gedanke einer Vorausahnung mehr erregt hätte? Einer richtigen, nachweisbaren Vorausahnung? Was meinst du? «
Sie schniefte, den Blick zu Boden gerichtet, und schüttelte den Kopf.
» Kannst du dir vorstellen, wie aufgeregt er wäre? Wenn er hier wäre, glaubst du etwa, er würde nicht darauf bestehen, dich gleich zu testen? « Benton hob eine Hand und strich Sibyl das Haar aus der Stirn. Zärtlich fuhr er mit dem Finger über ihre Wange und hob ihr Gesicht an.
Sie sah, dass seine Augen wieder klar waren, ja, dass sie vor Entschlossenheit glänzten.
» Das hätte er bestimmt, ja « , stimmte Sibyl zu und wischte sich mit dem Handrücken über das feuchte Auge.
» Für mich ist es sonnenklar « , sagte Benton.
Sie schaute fragend zu ihm auf. » Na gut. Dann los. «
Er nahm sie an der Hand, drückte sie zuversichtlich, und sie liefen zur Fakultät für Philosophie. Mit seiner freien Hand wühlte Benton in seiner Tasche nach einem Schlüsselbund. Er schüttelte den Kopf und murmelte: » Ach, verdammt, Edwin. Ich verstehe immer noch nicht, warum du unbedingt auf dieses verdammte Schiff musstest. «
Das Türschloss gab mit einem Knarzen nach, und Benton hielt für Sibyl die Tür auf, damit sie vor ihm hineinging.
» Ben « , fragte sie zögernd. » Wie kriegen wir das Buch aus seinem Büro? «
» Ich bin mir noch nicht sicher « , gestand er.
Alle Lichter waren gelöscht. Sibyl erschauderte, als die gottverlassene Einsamkeit des Philosophiegebäudes bei Nacht sie einhüllte. Benton förderte ein silbernes Feuerzeug aus seiner Tasche zutage und knipste es an, wobei er die Flamme hoch über ihre Köpfe hielt, damit sie ihnen leuchtete. Sibyl hängte sich bei ihm ein.
» Kein Grund zur Sorge « , sagte er, obwohl sie sehr wohl spürte, dass er seiner Stimme mehr Selbstvertrauen einflößte, als er eigentlich verspürte. Sie gingen den Flur entlang, und von dem flackernden Licht, das unheimliche Schatten an die Wand warf, war Sibyl unbehaglich zumute.
» Ich mach mir keine Sorgen « , log sie.
Sie kamen zu einer Glastür, an die der Name » Friend « angebracht war. Benton drückte die Klinke herunter.
Abgeschlossen.
» Verflixt und zugenäht « , fluchte Sibyl.
Benton schaute sie amüsiert an. » Verflixt und zugenäht ? « , wiederholte er.
» Bitte? « , erwiderte sie mit verschränkten Armen.
» Zugenäht « , sagte er betont und schenkte ihr ein schiefes Lächeln.
» Und was machen wir jetzt? « , fragte sie.
» Hm. « Benton versuchte es noch einmal an der Tür, doch sie war und blieb verschlossen.
Die beiden starrten finster auf den Knauf, als könnten sie die Tür allein durch ihre Willenskraft öffnen.
Benton grinste schelmisch. » Wie tollkühn fühlst du dich denn heute? «
» Na ja. Ich befinde mich mitten in der Nacht in einem menschenleeren Universitätsgebäude, zusammen mit einem fremden – fast würde ich sagen, sehr fremden Mann. Schätze, dann ist heute also mein tollkühner Tag. «
» Touché « , sagte Benton. Er streckte die Hand aus und zog eine Nadel aus Sibyls Haar. Überrascht schnappte sie nach Luft und hob die Hand, um die herausschlüpfende Haarlocke an Ort und Stelle zu bringen. Er grinste und sagte: » Danke schön, Miss Allston « , reichte ihr das Feuerzeug und ging vor der Bürotür auf die Knie.
» Ben! « , zischte sie.
Benton ließ die Haarnadel ins Schloss gleiten und stocherte darin herum.
» Könntest du das Licht ein bisschen näher heranhalten? « , fragte er konzentriert.
Sie kniete vorsichtig neben ihm auf dem Boden und hielt die Flamme so nah an sein Gesicht, wie es eben ging, ohne ihm die Augenbrauen zu versengen.
» Wo um alles in der Welt hast du das gelernt? « , flüsterte sie und schielte zu ihm hinüber.
Er stocherte mit behutsamen Bewegungen in dem Schloss herum.
» An meiner Highschool konnte man nicht nur Französisch lernen « ,
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