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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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einen Sinn abringen. Drinnen kam ihr Blick den Dingen näher, er schwebte durch den Dunst hinab, ohne auf den Dreck und die aufblitzenden roten Lichter zu achten, die auf ihn herabregneten. Langsam schwebte sie über der Landschaft, über den mit Raureif überzogenen Furchen, die mit endlos langem, welligem Draht abgesteckt waren, der scharf aussah. Dann blieb ihr Blick über einer der Furchen stehen, und sie konnte hinabschauen.
    » Oh! « , rief Sibyl. » Es sind – Ben, es sind Menschen. Männer. «
    » Was hast du gesagt? « , fragte er und legte den Stift beiseite.
    » In den Furchen. Die sind wie lange Korridore in der Erde. Voller Männer, die alle Helme tragen. Runde Helme, wie Teller. Jedenfalls rund. Sie sind mit Schlamm bespritzt. Und sie haben Gewehre in der Hand. «
    » Sibyl, wenn du Furchen sagst oder Korridore in der Erde – könntest du Schützengräben meinen? «
    » Ach ja. Gräben. Das habe ich gemeint. «
    » Großer Gott « , keuchte Benton, der seinen Schrecken nicht mehr verbergen konnte.
    » Schützengräben « , wiederholte Sibyl bedächtig. Sie schwebte über der zerklüfteten Kante des Bollwerks in der Glaskugel und glitt langsam an den Männern vorbei, die darin waren. Unter der Schmutzschicht und den Schwellungen auf ihren verängstigten Gesichtern sah sie, dass die meisten noch junge Männer waren, so jung oder noch jünger als die in Harvard. Der Graben war bis zu ihren Schienbeinen mit Schmutz und Schlamm gefüllt.
    » Sibyl « , Benton versuchte, seine Stimme ruhig zu halten. » Was hat das, was du da siehst, mit dir zu tun? «
    » Wie meinst du das? « , fragte Sibyl. Sie sah alles verschwommen, verhüllt von einer Wolke aus Rauch und Splitt. Sie schwebte an der Gestalt eines Jungen vorbei, der halb versunken im Schlamm am Boden des Schützengrabens lag, sein eines sichtbares Auge offen und glasig, die Haut der Wangen grau wie Wachs.
    » Mit dir « , wiederholte Benton. » Was du siehst. Es muss irgendwie mit dir zu tun haben. «
    » Aber ich begreife nicht, was ich da sehe « , murmelte sie. » Ich weiß es nicht. «
    » Denk nach « , drängte er sie und nahm seinen Stift wieder in die Hand. » Das Buch ist hier sehr klar. Ganz gleich, wie fern es scheint – etwas an dieser Vision hat direkten Einfluss auf dein Leben. Wenn das, was du siehst, auch wirklich das ist, was wir denken. «
    Wir? Sibyl legte die Stirn in Falten. Doch sie erkannte weder die Landschaft, noch begriff sie die Situation. Sich selbst konnte sie nicht entdecken, nein, sie sah überhaupt niemanden, den sie … Moment.
    Sibyl schrie auf.
    » O Ben « , stieß sie atemlos hervor. » Es ist Harley. Ich sehe Harlan. «

FÜNFUNDZWANZIG
    H ier « , sagte Benton und reichte ihr ein Glas Wasser.
    Sibyl nahm es entgegen und ließ die Schultern sinken. Gierig stürzte sie die Flüssigkeit hinunter in der Hoffnung, damit auch den letzten Rest dessen hinunterzuspülen, was sie gerade gesehen hatte.
    Benton nahm mit einem Seufzer der Erschöpfung ihr gegenüber Platz. Er zog sein Notizbuch zu sich herüber, damit beide hineinschauen konnten. » Nun « , begann er nachdenklich. » Ich muss sagen, das war eine überraschende Wendung der Ereignisse. «
    » Wie meinst du das? « , fragte Sibyl und stellte das Wasserglas beiseite. Sie hatte das Gefühl, noch nie in ihrem Leben so müde gewesen zu sein.
    » Schau mal, hier « , erwiderte Benton und zeigte auf das Notizbuch. » Zehn Uhr, Morphium verabreicht. Zehn Uhr eins, keine Veränderung. Zehn Uhr zwei, keine Veränderung. Dann, um zehn Uhr acht, taucht der schwarze Rauch auf. Um sechzehn nach zehn enthüllt der schwarze Rauch eine unbekannte, furchige Landschaft, so hast du sie beschrieben. So geht die Vision weiter in einer halbwegs regelmäßigen Abfolge, wobei jeder Schritt eine neue Intensität an Einzelheiten mit sich bringt. So ging das fast eine Stunde lang, bis zu dem Moment, als du deinen Bruder gesehen hast. In der Tat denke ich, es wäre sogar noch weiter so gegangen, wärst du aufgrund deines Schocks, ihn zu sehen, nicht aus deinem empfänglichen Zustand herausgerissen worden. «
    Sibyl ließ Benton nicht aus den Augen, als er sprach, und wägte seine Worte ab. Während sie in die Kugel geschaut hatte, war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel Zeit verstrich. » Also « , wagte sie sich vor, » glaubst du nicht mehr, dass ich nur träume. «
    » Sibyl « , er ergriff ihre Hände und sah sie voller Intensität an. » Hast du jemals etwas über den Krieg gelesen?

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