Die Frauen von der Beacon Street
Erinnerung zu verscheuchen.
» Ach « , seufzte Johnny, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sagte resigniert: » Ich glaube, du bist sehr müde. Und ich glaube, du bist sehr weit weg von zu Hause. Und ich glaube, ich habe vergessen, dass du jünger bist als ich. «
Auf diese Weise zum Widerspruch herausgefordert, setzte sich Lannie auf und wischte sich übers Gesicht. » Ich bin nicht viel jünger als du. «
» Ach nein? Wie alt bist du denn, Schiffsjunge? « , fragte Johnny mit einem schiefen Grinsen und verschränkte die Arme.
» Siebzehn « , brummte Lannie, den es ärgerte, wenn man ihn wie ein Kind behandelte.
» Siebzehn! « , rief der junge Chinese aus. Er lachte, warf den Kopf in den Nacken. » O Mann. Das ist noch schlimmer, als ich dachte. Aber du bist so groß! Du bist wie ein Riesenbaby. Was geben die euch denn zu essen, da drüben in Neuengland? « Er stand auf, immer noch lachend. » Komm schon. Zeit zu gehen. «
» Warum? « , fragte Lannie murrend. » Wie alt bist du denn? «
» Ich « , Johnny plusterte sich zu seiner ganzen Größe – sprich, einen halben Kopf kleiner als Lannie – auf, » ich bin zwanzig! « Stolz auf seinen Vorsprung in Sachen Männlichkeit, schlug sich der junge Mann mit der Faust auf die Brust.
» So, so. Und du denkst, du bist mehr ein Mann als ich, bloß weil du älter bist? « , fragte Lannie lächelnd.
Johnny lächelte zurück, erleichtert darüber, dass es ihm gelungen war, Johnny aufzumuntern. » Das habe ich nie damit sagen wollen. Niemals. «
» Das ist gut. So was könnte ich nämlich nicht im Raum stehen lassen. «
» Natürlich nicht. Und jetzt komm mit. «
Lannie schlüpfte in seinen Mantel, stopfte das Chronometer in seine Tasche, und die beiden jungen Männer traten hinaus auf die Straßen der Altstadt von Shanghai.
VIERUNDZWANZIG
Universität Harvard, Fakultät für Sozialethik, Cambridge, Massachusetts, 7. bis 8. Mai 1915
S o « , sagte Benton. » Bist du bereit? «
Sibyl faltete die Hände vor sich auf dem Specksteinlabortisch und nickte langsam.
An der Stirnseite des Labors hing eine Schiefertafel, an der Lektüreaufgaben im Fach » Mentale Hygiene « angeschrieben waren. Neben der Tafel baumelte das Skelett eines Orang-Utans, den Schädel zu einem scharfzahnigen Grinsen verzogen. Einige Präparate in Glasbehältern mit parasitären Würmern, in Spiritus eingelegt, standen auf dem Schreibtisch vor den Stuhlreihen. Beleuchtet wurde der Raum durch elektrisches Deckenlicht, und in dem ganzen Gebäude war es so still, dass Sibyl das leise Surren der Glühfäden in den Birnen hören konnte.
Benton reihte vor sich die Utensilien für das Experiment auf: ein Notizbuch, einen Füllfederhalter, eine Taschenuhr mit Stoppfunktion, die Bibliotheksausgabe der anthropologischen Untersuchung Le Sang de Morphée, die auf einer Seite mit der Überschrift Hypothèse sur les opiacés et la précognition aufgeschlagen war, eine Glasampulle mit einer braungelben Flüssigkeit, ein ledernes Mäppchen mit Reißverschluss sowie die Holzschachtel mit der Kristallkugel. Diese Versuchsanordnung ging Benton anhand einer Liste aus dem anthropologischen Textbuch durch und nickte.
» Und hier steht, wie es funktioniert, alles einwandfrei. Erstens befinden wir uns in einer sterilen Laborumgebung, ohne Zuschauer. « Sibyls Blick wanderte zu dem Orang-Utan-Skelett und den Einmachgläsern mit Würmern, machte sich aber nicht die Mühe, Benton zu sagen, dass sie anderer Meinung war. Ganz gewiss war das hier nicht wie in Mrs Dees Salon oder wie in Dovie Whistlers geheimem Club. Sie drehte sich zu Benton um und nickte.
» Gut. Als Allererstes spritzen wir dir eine Dosis Morphium. «
» Wir machen – was? « , rief sie entsetzt aus.
» Aber natürlich « , sagte er und zog den Reißverschluss des Ledermäppchens auf. Es war in Wirklichkeit eine kleine medizinische Ausrüstung und enthielt eine Metallspritze sowie einen Ansammlung von verschiedenen, austauschbaren Injektionsnadeln. Beim Anblick der Nadeln, von denen einige ziemlich dick waren, spürte Sibyl, wie sie ein vages Schwächegefühl überkam. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, und ihre Haut war klamm und nahm eine leichte Grünfärbung an.
» Ist das … « , stieß sie hervor. » Bist du sicher, dass das nötig ist? «
» Nun, ich denke schon. Es ist die einzige wirklich sichere Methode, um die Dosis zu kontrollieren, die wir dir verabreichen. Alles andere ist zu variabel. Hustensaft, Opiate aus Mohnsamen,
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