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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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einer dumpfen Welle der Beklemmung erfasst. Sie war nie allein hierhergekommen. Immer war Dovie dabei gewesen, um ihr den Weg zu ebnen. Sibyl überlegte kurz, ob sie umkehren, wieder in das Automobil steigen und nach Hause fahren sollte. Doch der Gedanke an Harlan und sein Schicksal war überwältigend, und das noch unvollendete und doch so intensive Bild ihres Bruders im Schützengraben hing vor ihrem inneren Auge wie ein mahnendes Banner.
    » Nein « , flüsterte sie.
    » Wie bitte? « , polterte der Fahrer. » Miss? «
    » Nein « , wiederholte sie und erhob entschlossen die Stimme. » Danke. Es besteht kein Anlass zu warten. «
    Ohne etwas zu sagen, schüttelte der Fahrer den Kopf, ließ den Wagen wieder an und fuhr über die kopfsteingepflasterte Straße davon.
    Nun war Sibyl allein. Sie ging auf die nicht weiter gekennzeichnete Tür zu und klopfte leise an.
    Es gab keine Reaktion.
    Stirnrunzelnd klopfte sie wieder, fester, dieses Mal mit der Faust.
    Dann endlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und ein Auge erschien. Es starrte sie an.
    Erst jetzt fiel Sibyl ein, dass Dovie stets den Zettel bei sich gehabt hatte, wie eine Art Empfehlungsschreiben in chinesischer Sprache, damit ihr Einlass gewährt wurde. Verdammt. So etwas hatte sie nicht. Dennoch trat sie entschlossen näher zur Tür, damit man bei dem schwachen Lichtschein der roten Laterne ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Wartend starrte sie in das Auge.
    Das Auge blinzelte einmal. Zweimal. Dann ging die Tür wieder ganz zu.
    Erneut fluchte Sibyl vor sich hin. Sie wusste, dass sie die Kraftdroschke nicht so unbekümmert hätte fahren lassen sollen. Die Hände in den Taschen ihres Mantels, fragte sie sich, was sie als Nächstes tun sollte.
    Dann wurde auf einmal doch die Tür geöffnet. Sibyl tat so, als habe sie mit nichts anderem gerechnet, richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf und trat ein.
    » Hallo, Creesy « , sagte sie zu dem abgemagerten Mann, der ihr Einlass gewährt hatte.
    » Guten Abend, Miss Allston « , erwiderte er mit einem knappen Kolonialakzent, und Sibyl zuckte erschrocken zusammen. Mit Dovie hatte er nie geredet, wenn sie ihn ansprach. Eigentlich war Sibyl immer davon ausgegangen, einen Taubstummen vor sich zu haben. » Gehen Sie einfach hoch. Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie anzukündigen. «
    Sibyl zitterte innerlich vor Aufregung, doch gelang es ihr, ihre Stimme ganz ruhig zu halten, als sie Creesy dankte. Dann machte sie sich auf den Weg die Treppe hoch.
    Als sie oben angelangt war, sah sie, dass die Opiumhöhle zwar nur spärlich besucht, jedoch warm und einladend war. Die üblichen Feuer brannten, und der riesige Kronleuchter aus Messing warf einen weichen Lichtschein über die verschiedenen Textilien wie Teppiche und Brokat, mit denen der Raum ausgekleidet war. Einige wenige Gestalten lagerten auf Sofas oder kleinen Polsterecken auf dem Boden, manche schliefen fest, doch die meisten waren in ihre Wachträume versunken. Ein Mann beugte sich über die Musiktruhe und blätterte die Schallplatten durch. Außer dem Knistern des Feuers, dem Ticken der Standuhr und einem gelegentlichen Schniefen der Gäste war nichts zu hören. Sibyl wartete, schlüpfte aus ihrem Mantel und schaute sich im Raum um. Nun ertönte das Grammophon, und eine Frauenstimme sang süßlich von der Hoffnung am Horizont und den Tränen, die sie ihrem Liebhaber vom Gesicht küssen wolle. Was für ein rührseliger Schmachtfetzen. Und doch schien immer dieses Lied zu spielen, wenn sie hier war.
    In genau diesem Moment schlurfte der Besitzer in seinen grotesken türkischen Schnabelschuhen auf sie zu, und Sibyl musste sich ein Lächeln verkneifen, als sie sein vermeintlich orientalisches Gewand sah. Andererseits, dachte sie, verkaufte er schließlich ebenso die Fantasievorstellungen des Fernen Ostens wie alles andere, was er hier feilbot. Er lächelte breit, als er sie erblickte, und nahm ihre Hand. Sie allein und mitten in der Nacht auf der Schwelle seines Etablissements zu sehen, schien ihn offenkundig nicht weiter zu erstaunen. Aber vermutlich waren die Anstandsregeln in der Welt der Opiumhöhlen einfach andere. » Miss Allston « , sagte er mit einer formvollendeten Verbeugung. » Was für eine Freude, Sie wiederzusehen. «
    » Gleichfalls « , erwiderte sie.
    » Soll ich Sie an Ihren gewohnten Platz begleiten? « , fragte er. » Da drüben am Feuer ist es sehr angenehm. Sehr abgeschieden. Niemand wird Sie stören. «
    » Das wäre wunderbar,

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