Die Frauen von der Beacon Street
erwartet wurde, dass sie die Probleme löste. Unannehmlichkeiten beschränkten sich in der Regel auf die Entlassung eines Küchenmädchens, das lange Finger gemacht hatte – wozu der Diebstahl eines Silberlöffels genügte – oder die Begleichung der Rechnung eines Arztes, dem es nicht gelungen war, die Verdauungsstörungen ihres Vaters zu dessen Zufriedenheit zu kurieren. Insofern hatte Sibyl durchaus damit gerechnet, dass auch Harlans geplante Rückkehr im Sommer ihr Organisationstalent beanspruchen würde. Allerdings deutete sein plötzliches Wiederauftauchen darauf hin, dass es mit ein wenig Organisationstalent nicht getan sein dürfte.
» Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung. Für ihn wäre es allerdings besser, wenn ich mich täusche « , sagte ihr Vater mit neutraler Stimme, die im Gegensatz zu den dunklen Wolken stand, die sich am Himmel seiner blassen Augen zusammenbrauten. Baiji sperrte den Schnabel weit auf, streckte seine unheimlich menschliche Zunge heraus, ohne dabei ein Geräusch zu machen, und klappte ihn wieder zu.
Auch Sibyl öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. Stattdessen wanderten ihre Augen zu der Holzverkleidung an der Decke, und sie wappnete sich für die Begegnung mit ihrem Bruder und den Schwierigkeiten, in denen er offenbar steckte.
VIER
E in Stockwerk höher, in einem Zimmer, dessen architektonische Feinheiten durch gewaltige Berge an Büchern und Kleidern verdeckt wurden, stand ein junger Mann vor dem Spiegel auf seiner Kommode und betrachtete sich. Die Kommode war ein hohes, schmales Möbelstück von der ganzen Kraft und Würde des Bostoner Stils, dessen einzige runde Formen die geschwungenen Beine und die an Krallen erinnernden Füße waren, weshalb die Mutter des jungen Mannes das Möbelstück in die oberen Stockwerke, außer Sicht, verbannt hatte. Der Spiegel auf dieser hohen Kommode war leicht nach unten gekippt, damit sich der Betrachter beim Binden einer Krawatte und dem Herrichten eines Anzugs leichter tat. Neben dem Spiegel lagen eine silberne Bürste und ein Kamm, zusammen mit einem halben Dutzend zerknüllter Taschentücher und mehreren kleinen Glasfläschchen. Die Neigung des Spiegels zwang den jungen Mann, sich wie von oben anzuschauen, was in ihm das unwillkommene Gefühl weckte, wieder ein kleiner Junge zu sein, der von höherer Warte betrachtet und bewertet wird.
Harlan Plummer Allston III . spähte voller Verachtung auf sein Spiegelbild und stützte sich dabei auf einen Arm auf. Der Spiegel zeigte eine nahezu perfekte Replik von Harlan selbst: gleiches Alter – einundzwanzig –, gleiche gelockerte Krawatte und offener Hemdkragen. Nur den Scheitel im glatten braunen Haar hatte sein Ebenbild im Spiegel auf der falschen Seite – der linken statt der rechten –, und das dunkle Muttermal befand sich über der falschen Braue. Die Brauen selbst jedoch waren gerade und dunkel, wie die von Harlan, und das Lächeln ebenso verwegen. Seine Lippen waren etwas voller, als Harlan es sich gewünscht hätte, fast wie die einer Frau. Auch etwas mehr Bartwuchs hätte er gerne gehabt, doch der Schnurrbart wuchs immerhin recht anständig. Harlan schenkte sich selbst ein Lächeln – der etwas matte Versuch, sich zu beruhigen – und nahm zu dem gleichen Zweck einen großen Schluck einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Ein warmes Gefühl ergoss sich über seine Zunge, und als er sich den Mund mit der Unterseite seines Hemdsärmels abwischte, tat Harlans Spiegelbild das Gleiche. Er hielt sich das Whiskeyglas an den Augenwinkel und drückte es einen Moment lang auf die Haut, genoss die Kühle des Glases.
Ein leises Kratzen an seiner Tür ließ den jungen Mann zusammenzucken. Rasch stellte er das Glas beiseite.
» Einen Moment bitte « , sagte er schwankend, stützte sich dann mit einer Hand an der Kommode ab und packte mit der anderen den Pfosten am Fuße seines Betts. Auch diese Bettstatt war Helens ästhetischen Capricen zum Opfer gefallen und ins luftige Exil verbannt worden; das Bett war sogar noch älter als die Kommode. Seine Matratze war mit klumpigem Rosshaar gefüllt und lag noch immer auf einem altmodischen Lattenrost aus Seilen, die geflochten und in einen Rahmen geschlungen waren.
» Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein « , hatte sein Kindermädchen immer gesungen, wenn es ihn abends in dieses Bett brachte. Als Junge hatte er es riesengroß gefunden, eine weite, offene Fläche aus gestärktem Leinen, die sich um ihn herum
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