Die Frauen von der Beacon Street
bis in die Unendlichkeit der Nacht erstreckte. Jetzt jedoch passte Harlan mit seinen schlaksigen über eins achtzig kaum mehr hinein. Beim Schlafen musste er sich zur Seite krümmen, die Kissen unter den Kopf gestopft, und einen Fuß heraushängen lassen, wo die Bettdecke ihm keine Sicherheit mehr bieten konnte. Die Matratze hing durch, seit es kein Kindermädchen mehr gab, das die Riemen des Lattenrosts von Zeit zu Zeit spannte. Er passte einfach nicht mehr hinein, auch hier nicht mehr.
Wieder kratzte es an der Tür, jetzt hartnäckiger.
» Komme schon « , sagte er, jetzt deutlicher, und ließ die Möbelstücke los. Er schüttelte sich, versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Einen Moment lang rang er noch um das Gleichgewicht, dann stürzte er in Richtung Tür, wobei er prompt an den Reisekoffer stieß. Harlan stolperte, der Koffer kippte um und zwickte ihm den Daumen ein. Er stieß einen leisen Fluch aus.
» Harlan « , drängte die Stimme auf der anderen Seite der Tür. » Ich bin’s. Komm schon, mach die Tür auf. «
Der junge Mann befreite sich von den Kleidungsstücken, die aus dem Koffer auf ihn gepurzelt waren, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und öffnete verärgert die Tür.
Harlan hatte seine Schwester – das heißt, die Schwester, die ihm geblieben war – nicht mehr gesehen seit … ja, wie lange war er jetzt nicht mehr daheim gewesen? Weihnachten, vermutlich. Zu Ostern hatten er und einige seiner Kumpel eine Spritztour nach New York gemacht. Um sich die neuen Stücke am Broadway anzuschauen, hatten sie gesagt. Nun, das war zumindest der Plan gewesen. Und Theater hatte es tatsächlich gegeben – wenn man das so sagen konnte. Er lachte, als er an den lärmenden Abend dachte, und ertränkte sein Gelächter rasch mit einem weiteren Schluck aus seinem Whiskeyglas.
» Komm rein, Sibs « , sagte er und wies mit einer schwungvollen Armbewegung entschuldigend auf das Chaos, das im Zimmer herrschte.
Er sah, wie Sibyl den Blick über seine Habseligkeiten schweifen ließ, die er mit fast einstudierter Nachlässigkeit im Raum verteilt hatte. Zögernd blieb sie in der Tür stehen.
» Mrs Doherty hat mir versichert, dass mit dem Bettzeug alles in Ordnung ist « , begann Sibyl.
Harlan stöhnte in gespieltem Überdruss laut auf und blickte entnervt zur Decke. » O mein Gott! « , rief er. » Das Bettzeug! Was machen wir bloß mit dem Bettzeug? «
Lachend wandte er sich von ihrem vorwurfsvollen Blick ab, doch sein Lächeln war in dem Moment verschwunden, als er ihr den Rücken zukehrte. Harlan stützte sich mit einem Ellbogen schwer auf der Kommode auf, machte sich an einer Karaffe zu schaffen, die inmitten der zerknüllten Taschentücher stand, und goss sich noch einen Fingerbreit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ins Glas. Dann ließ er sich in einen ledernen Armsessel vor dem Kamin sinken, warf schwungvoll ein Bein über die Lehne und ließ den mit einem Pantoffel bekleideten Fuß baumeln. Aus dieser Haltung blickte er zu seiner Schwester empor und sah einen Ausdruck von Missbilligung über ihr Gesicht huschen. Ein heißes Gefühl der Scham und des Unmuts explodierte in seiner Brust.
» Und? « , fragte er barsch. » Dann wollen wir mal. Hab lange genug gewartet. «
Sibyl schluckte und bahnte sich einen Weg in das Zimmer. Harlan drehte sich zum Feuer und stocherte ein wenig mit dem Schürhaken, damit er sie nicht anschauen musste. Das Feuer war in der letzten guten Stunde unbemerkt heruntergebrannt, und er stieß so lange mit dem Schürhaken nach dem Scheit, der auf dem Rost lag, bis er mit leisem Knacken und einem Funkenregen wieder Feuer fing. Zufrieden warf Harlan den Haken beiseite und drehte sich um. Seine Schwester stand, die Arme voller Herrenhemden, die sie vom gegenüberliegenden Lehnstuhl geklaubt hatte, vor ihm, einen Ausdruck der Verwirrung auf dem Gesicht. Er gab ein Schnauben von sich. Sibyl warf ihm einen vernichtenden Blick zu und ließ die Hemden in einem Haufen auf den Boden fallen. Dann setzte sie sich mit durchgedrücktem Rücken in den Sessel und faltete die Hände in ihrem Schoß. Schließlich richtete sie ihren unbehaglichen Blick auf ihn und wartete.
Harlan blickte über den Rand seines Glases hinweg zu Sibyl und versuchte, an ihrem Gesicht abzulesen, was sie dachte. Sibs, seine ältere Schwester. Aus irgendeinem seltsamen Grund freute es ihn, dass sie älter aussah, als er sie in Erinnerung hatte. Mädchenhaft war Sibyl nie gewesen, und so sah sie jetzt, da
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