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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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unbeteiligt zu klingen.
    Sibyl sagte nichts, und Harlan warf ihr vom Fenster einen erwartungsvollen Blick zu.
    » O Harley, was ist denn bloß passiert? «
    In dem Moment brach Harlan zusammen, und seine ganze Selbstverachtung ergoss sich über ihn wie ein Schwall sauer gewordene Milch. Er wandte sich zu ihr, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengekniffen, die Nasenflügel bebend. Sibyl drückte sich tiefer in den Armsessel, und einen kurzen Moment lang entdeckte er Angst auf ihrem Gesicht, bevor sie sie verbergen konnte. Kaum sah er, dass sie sich vor ihm fürchtete, erglühten seine Wangen in einer Mischung aus Wut und Scham; er war wütend auf Sibyl, weil sie nicht begriffen hatte, dass er von ihr beruhigt werden wollte, und schämte sich für seine verfluchte Schwäche. Mit steifen Schritten durchquerte er den Raum und riss die Tür mit solcher Wucht auf, dass sie an die Wand schlug und mit dem Knauf einen Riss in der Tapete verursachte.
    » Ich habe dir nichts zu sagen « , erwiderte er barsch. » Ich habe niemandem etwas zu sagen. «
    Sibyl erhob sich, und Harlan wusste, dass sie ihr Unbehagen mit formeller Steifheit zu überspielen suchte. Es war typisch für Sibyl, auf alles Unangenehme so zu reagieren; dieses Verhaltensmuster hatte sie von ihrem Vater übernommen, und Harlan hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und sie geschüttelt, sie gezwungen, zu begreifen, was er empfand, ohne es erklären zu müssen, so wie es früher gewesen war, als sie noch Kinder waren. Er wünschte es sich so sehr, dass sie ihn sah. In diesem Moment grenzte das Gefühl für seine Schwester an Hass. Helen und Eulah waren weg; und jetzt war auch Sibyl dabei, ihn zu verlassen.
    Sie drängte sich mit erhobenem Kopf an Harlan vorbei, die Lippen zu einer grimmigen Linie zusammengepresst, wie er selbst. An der Tür blieb sie kurz stehen, die Fingerspitzen an den Türknauf gelegt. » Du bist angespannt « , sagte Sibyl in kaltem Ton, und die Verurteilung in ihrer Stimme brachte den Muskel an seinem Kinn zum Zucken. » Jetzt genug damit. Du ruhst dich am besten noch etwas aus. Ich habe das Abendessen für halb acht geordert. «
    Sie ließ den Blick kurz über sein mitgenommenes Äußeres wandern und sah ihm dann in die Augen. » Umgezogen. «
    Mit einem Klicken schloss sich die Tür hinter ihr, und Harlans Faust schloss sich um das Glas, bis es zerbrach.
    Exakt fünfzehn Minuten vor Abendessenszeit, jedoch deutlich nach dem Läuten, mit dem die Zeit zum Umkleiden verkündet wurde, streckte Harlan den Kopf aus seiner Schlafzimmertür, blickte nach links den mit Teppich ausgelegten Flur in Richtung Treppenhaus entlang, dann nach rechts, wo der Flur in den hinteren Teil des Hauses und zu Sibyls Räumen führte, und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie gewiss immer noch mit dem Umkleiden beschäftigt war. Von unten im Erdgeschoss war kein Mucks zu hören außer dem fernen Ticken einer unsichtbaren Uhr. Er schob leise einen nur mit Socke bekleideten Fuß durch die Tür, dann den anderen. Sein Haar war mit Pomade aus dem Gesicht gestrichen, das Abendjackett gebürstet, und im Knopfloch trug er, in kecker Missachtung der derzeitigen Mode, ein frisches Zweiglein Minze. Seine schwarze Seidenkrawatte war elegant geknotet, und die Wangen glühten rosig nach der Rasur. In einer Hand hielt er ein Paar Abendschuhe, auf Hochglanz poliert, über dem Arm einen Mantel, während er mit der Hand leise die Schlafzimmertür zuzog.
    Er setzte einen Fuß nach dem anderen wie eine Katze und machte sich einen Spaß daraus, die Knie dafür besonders hochzuziehen wie ein Indianer auf der Pirsch. So schlich er an Sibyls Schlafzimmertür vorbei. Dabei trat er prompt mit dem Fußballen in die Ritze zwischen zwei Dielenbrettern, die laut knarzten. Harlan erstarrte.
    Drinnen verstummte ein leises Summen. Auf beiden Seiten der Tür wurde der Atem angehalten, wurden die Ohren gespitzt. Nichts war zu hören, außer dem fernen, unbestimmten Ticken der Standuhr. Im nächsten Moment setzte das Summen, das Sibyl beim Aufstecken ihres Haares machte, wieder ein, und Harlan atmete in mehreren leisen Stößen aus, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er öffnete die Tür zur hinteren Dienstbotentreppe, schlüpfte hindurch und schloss sie mit einem leisen Klicken.
    Er huschte die schmale Treppe hinab wie damals, als er noch ein Junge gewesen war und durchs Haus schlich, weil er Pirat spielte oder einen Spion der Nordstaaten, der hinter die feindlichen Linien geraten

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