Die Frauen von der Beacon Street
Nippes auf den oberen Buchregalen. Durch ein halb offenes Fenster, in das ein Telefonbuch geklemmt war, drang der nachmittägliche Nebel herein. Eine Schreibtischlampe hüllte das Zimmer in einen grünlichen Schein. Hinter dem Schreibtisch lehnte sich Benton Derby, Dozent für Psychologie, in seinem Drehstuhl zurück, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt. Als er sie erblickte, sprang er auf und wischte in seiner Hast ein paar Blätter vom Schreibtisch zu Boden. Er wurde rot, bückte sich, um sie aufzuheben, und stieß einen leisen Fluch aus.
Benton musste mittlerweile etwa fünfunddreißig sein, vielleicht ein wenig jünger. Jedenfalls älter als der Bursche in der Tür, der etwa in Sibyls Alter war. Ben hatte immer noch die Statur eines Mannes, der in Schulzeiten Ringer gewesen war: zu muskelbepackt für den Anzug, den er trug und der sich an manchen Stellen ausbeulte, weil er offenbar von einem Schneider angefertigt worden war, der an die schmale Figur von unsportlichen Männern aus der höheren Gesellschaft gewöhnt war. Seine Haare waren in den vergangenen drei Jahren grafitgrau geworden. Dieses graue Haar in Kombination mit seinem jugendlichen Körper verlieh Benton etwas seltsam Exotisches. Das Haar war kurz geschnitten, weil sein Besitzer offenbar zu ungeduldig war, sich morgens lange mit seinem Äußeren aufzuhalten. Benton trug eine runde Brille mit Goldrand, hinter deren Gläsern seine stahlgrauen Augen kleiner wirkten, als Sibyl sie in Erinnerung hatte. Sie fragte sich, ob er wirklich eine Brille brauchte, oder ob die Augengläser mehr seinem Wunsch entsprangen, wie ein echter Professor zu wirken. Aber natürlich konnte er sich in all den Jahren des Studiums durchaus die Augen verdorben haben. Das war auch ein Grund, warum Helen strikt dagegen gewesen war, dass Sibyl aufs College ging.
Sibyl lächelte und wartete darauf, vorgestellt zu werden.
» Na gut, fragen wir sie « , sagte Benton und winkte in ihre Richtung, als wäre sie bereits während der ganzen Diskussion anwesend gewesen. » Eine neutrale Partei. «
Sibyl war entsetzt über Bentons Bruch der Gepflogenheiten, bis sie sah, dass er sich hektischer als nötig an seinen Papieren zu schaffen machte. Seine Augen richteten sich auf sie, leuchteten auf, huschten dann zum Bücherregal. Ihr kam der leise Verdacht, die Aussicht darauf, sie wiederzusehen, könnte für Benton ebenso aufregend gewesen sein wie für sie.
» Fragen inwiefern? « , wollte Sibyl wissen.
» Sie müssen ihm verzeihen. « Der Mann, der in der Tür lehnte, streckte ihr eine Hand entgegen. » Es ist eine Binsenweisheit, dass man Psychologen besser selbst in die Klapsmühle schicken sollte. Ich bin Professor Edwin Friend. «
Sie schüttelte ihm die Hand und lachte.
Benton gab sich schmollend. » Und es ist auch eine Binsenweisheit « sagte er, » dass Philosophen nur Unsinn reden. Professor Friend, das ist Miss Sibyl Allston. Nur zu. Fragen Sie sie. «
» Ich würde Miss Allston nur ungern langweilen, bevor Sie Gelegenheit haben, es selbst zu tun « , erwiderte Friend lächelnd.
Benton zog in gespielter Verärgerung die Nase kraus und warf einen Schwung Papiere auf den Schreibtisch.
» Die Frage « , sagte Professor Friend und verschränkte die Arme auf der Brust, » betrifft die American Society for Psychical Research, die Gesellschaft zur Erforschung Parapsychologischer Phänomene. In der Gesellschaft gehen die Meinungen momentan weit auseinander. Die einen sind der Ansicht, wir sollten uns auf übersinnliche Phänomene wie Telepathie und Hellseherei konzentrieren. Möglicherweise verfügt der menschliche Verstand ja über Fähigkeiten, die wir noch nicht recht begreifen, die aber innerhalb der physikalischen Gesetze durchaus erklärt werden könnten. «
Sibyl nickte und spürte, wie Benton sie anschaute. Ihr Blick wanderte von Friends Gesicht zu Benton, der die Augen sogleich zum Schreibtisch senkte. Er räusperte sich.
» Die andere Fraktion innerhalb der Gesellschaft « , fuhr Professor Friend fort, » möchte den Schwerpunkt auf spiritistische Phänomene legen. Kommunikation mit den Toten, Ektoplasma, Schreibmedien und so weiter. Was auch eine Art menschliches Potenzial ist, aber ein ganz anderes. Und welche Richtung kann denn nun etwas wirklich Bedeutsames, etwas Wahres über die menschliche Existenz ans Tageslicht bringen? Menschen mit besonderen Begabungen in dieser Welt oder Transzendenz mit der nächsten? «
Sibyl lächelte gespannt. » Meine Güte.
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