Die Frauen von der Beacon Street
Friend hob die Augenbrauen. Er verweilte noch einen Moment, vielleicht weil er darauf wartete, dass einer von ihnen ihm erklärte, warum Sibyl Benton während seiner Sprechstunde aufsuchte, wenn sie keine Studentin war. Als ihm niemand eine Erklärung auftischte, sagte er: » Verstehe. Nun gut. Dann bin ich mal weg. « Zum Abschied klopfte er leutselig an den Türrahmen und schlenderte davon.
Benton verfolgte den Abgang des Professors mit den Augen. Schließlich hob er die Hand, bedeutete Sibyl höflich, Platz zu nehmen, und lauschte, bis die Schritte auf dem Korridor verhallt waren. Als endlich nichts mehr zu hören war, sprudelte es aus ihm heraus: » Können Sie das glauben ? «
» Was glauben? « , fragte Sibyl verwirrt.
» Wir haben unser Doktorat etwa zur selben Zeit gemacht, wissen Sie. Ein Wunderknabe. Einer der schlausten Köpfe, die ich jemals erlebt habe, und jetzt vertändelt er seine Zeit mit Unsinn. Betrachten wir die Telepathie, oder kommunizieren wir stattdessen mit den Toten. Meine Güte! Was ist denn mit dem wirklichen Leben? Weiß er eigentlich, wie viele Kinder jeden Tag auf der Müllhalde der Stadt Boston nach Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Dingen wühlen? Es sind Hunderte. Was kümmert sie Telepathie? Was soll gut daran sein, wenn man sie an einen Tisch setzt, damit sie mit ihren toten Opas in Kontakt treten können? Ed ist ein guter Kerl, aber er will allen Ernstes seine Zeit mit diesem Hokuspokus verschwenden. Was nützt uns denn die Seele, wenn wir den Verstand nicht kennen? «
Bentons Wangen waren gerötet, und er ereiferte sich so sehr, dass sein Atem schnell ging. Sibyl starrte ihn entsetzt an. Dann schien er sich wieder zu fassen und wischte sich mit einer Hand übers Gesicht, bevor er seinen Stuhl vom Tisch abstieß und sich erhob.
» Hört, hört « , sagte er und schüttelte lachend den Kopf. » Rede mich in Rage, als wäre ich von Sinnen. Geben wir meinen Studenten die Schuld, okay? Hallo, Miss Allston. Es ist mir eine solche Freude, Sie wiederzusehen. « Er unterbrach sich. Seine beunruhigenden grauen Augen wanderten über Sibyls Gesicht. Sie brachte ein etwas halbherziges Lächeln zustande.
Sie zog einen Handschuh aus und streckte ihm die Hand hin. Er drückte sie, und es war ein warmer, vertrauter Händedruck. Ihre Hand brannte, als er sie berührte, und sie zog sie schnell wieder zurück.
» Benton, also wirklich « , protestierte sie. » Kennen wir uns denn nicht lange genug? «
» Dann Sibyl « , sagte er erfreut. Er wies auf den unordentlichen Stapel Papiere, die er vom Boden aufgehoben hatte. » Sie sollten mal sehen, wovon die glauben, dass es als Seminararbeit durchgeht. Ich muss ihnen ständig sagen, selbst Gentlemen sollten eigentlich wissen, wie man einen richtigen Satz formuliert « , bemerkte er und nahm wieder Platz.
» Ich bin mir sicher, Sie geben Ihr Allerbestes. « Sie blickten sich an, und Sibyl spürte, wie ihr die Brust eng wurde. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Einen Moment lang hatte sie den Impuls, die Hand an ihre Wange zu führen und mit einer Haarsträhne zu spielen, doch sie unterdrückte ihn. » Er kommt mir sehr klug vor, Ihr Professor Friend « , fuhr sie vage fort. » Ich fürchte, ich verstehe nicht so recht, was Sie an ihm stört. Wenn die Wissenschaft uns neue Erkenntnisse über die Natur des Menschen bescheren kann, was kann daran so schlecht sein? «
Benton seufzte schwer. » O ja, klug ist er durchaus, durchaus. « Er hielt inne und verzog kurz den Mund, während er auf einer Backe kaute. » Ich wusste nicht, dass Sie zu Séancen gehen « , sagte er schließlich. Eine Entschuldigung war es nicht ganz. Aber fast.
» Das bin ich früher nie. Na ja, so ganz stimmt das nicht. Mutter hat mich ab und zu mitgenommen. Als ich noch jünger war. Sie waren immer interessant, wissen Sie, auf eine amüsante Weise. Aber als es dann passiert ist … Nun, ich fand es wirklich … « Sie geriet ins Stocken, unschlüssig, wie sie den Satz vollenden sollte.
Ein schmerzlicher Blick huschte über Bentons Gesicht. » Es lag mir vollkommen fern, Sie aufzuwühlen « , sagte er ein wenig steif. » Aber, wissen Sie, wenn der Verlust von Eulah und Ihrer Mutter Sie so schmerzt, gibt es doch auch andere Wege, damit umgehen zu lernen. «
» Oh, ja gewiss. « Ihre Worte waren ausdruckslos, denn sie wollte das Gespräch von solch plötzlichen Vertraulichkeiten weglenken. Vielleicht hatte es ja einmal eine Zeit gegeben, in der sie sich
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