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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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hatte die Hände ausgestreckt. Die Haustür stand sperrangelweit offen, durch ihre gähnende Öffnung strömte kalte Luft herein. Dort in der Tür, eingerahmt durch den matten Schein der Straßenlaternen, die sich durch den Nebel brannten, die Arme gehoben, um die Dienstbotin abzuwehren, stand eine Frau, die Sibyl in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte.
    Sie war jung, jünger als Sibyl, doch aus irgendeinem Grund wirkten die jugendlichen Rundungen ihres Gesichtes rau und grob. Sie war von kompakter Statur, klein, schlank, mit geraden Schultern, ihr Gesicht war herzförmig, mit einer Himmelfahrtsnase, einem sorgfältig geschminkten Mund und hypnotisch grünen Augen. Die Haut unter ihren Augen war violett, ihre Wimpern feucht. Ihre Haut wirkte fahl, eine Bleichheit, die nicht nur vom Mangel an Sonnenlicht und frischer Luft herzurühren schien, sondern von nachlässiger Pflege, denn sie wirkte matt, wo sie rosig und frisch hätte sein sollen. Das blassblonde Haar stand kraus vom Kopf ab und war kinnlang geschnitten, sodass ein Stück des milchweißen Halses zu sehen war. Sie trug eine lange, fließende Tunika aus zinnoberroter Seide über einem schwarzseidenen Unterkleid, das ihr bis zur Mitte der Wade reichte und von eleganten, hochhackigen Stiefelchen gekrönt wurde. Die Tunika fiel ihr in einem glänzenden Schwall von den Schultern und war in der Taille durch eine schwarze Satinschärpe gerafft. Doch es war nicht das Kleid der Frau, das Sibyls Aufmerksamkeit im Bann hielt.
    Es war der tiefrote Streifen Blut, der in die Seide gesickert war.
    Vor Schreck öffnete Sibyl die Lippen, doch es kam kein Ton heraus. Sie bemerkte nur, wie Mrs Doherty sagte: » Ich hab mich wirklich bemüht, sie nicht hereinzulassen, ich sagte, sie dürfe nicht und … «
    Zur gleichen Zeit hatte die Fremde begonnen, laut zu weinen, und sich, bevor Sibyl begriffen hatte, was vorging, aus Mrs Doherty Griff losgerissen, war quer durch den Raum gerannt und hatte sich in Sibyls Arme gestürzt, krallte die Fingernägel in ihre Bluse und um die Taille. Ihr Atem war heiß an Sibyls Wange. Die Frau – oder das Mädchen, denn es war ja kaum mehr als ein Mädchen – hatte einen sonderbaren Geruch an sich, der Sibyl an den Weihrauch in Mrs Dees Salon erinnerte, nur würziger, und Sibyl wich vor ihr zurück, versuchte, sich ihr zu entwinden.
    » Sie müssen kommen, Sie müssen « , beharrte die Fremde wie von Sinnen und riss an dem Leinen von Sibyls Hemdbluse. Ihr Griff war stark, unter der vielen Seide mussten sich kräftige, dünne Ärmchen befinden, deren verzweifelten Druck Sibyl spürte, ehe Mrs Doherty zu ihr gelangt war, entschlossen die Hände zwischen die Arme des Mädchens und Sibyls Rippen schob und zog. So rangen die drei miteinander, während das Mädchen immer noch schrie und jammerte: » Hören Sie mir zu! Sie müssen mich anhören! «
    » Genug! «
    Das war eine bellende Stimme direkt hinter Sibyl gewesen, die den kleinen Ringkampf ebenso schnell beendete, wie er begonnen hatte. Der Griff des Mädchens lockerte sich, und Mrs Doherty gelang es endlich, sie an den Schultern zu packen und von Sibyl wegzureißen, gröber, als man es von der bereits in die Jahre gekommenen Haushälterin erwartet hätte. Das Mädchen stand keuchend da und rang um Luft, während sich der Blutfleck auf seiner Tunika zu einem abstoßenden Braunschwarz vertiefte.
    Lan Allston trat, zu seiner ganzen imposanten Größe aufgerichtet, mit entschlossenen Schritten aus der Dunkelheit des großen Salons. Fürsorglich ließ er den Blick über seine Tochter wandern, um festzustellen, ob sie Schaden genommen hatte, und wandte sich dann, als klar war, dass ihr nichts geschehen war, an das sich windende Mädchen, das Mrs Doherty in eisernem Griff hielt. Auf dem Gesicht der Haushälterin stand eine Mischung aus Angst und mütterlicher Besorgnis, während das Mädchen wie eine in die Enge getriebene Katze fauchte und um sich schlug.
    » Sie müssen mich anhören! « , stieß das Mädchen hervor. » Die werden ihn umbringen! «
    Sibyl schnappte erschrocken nach Luft. Benton hatte gesagt, ihr Bruder schulde einigen Clubmitgliedern Geld, und zwar mehr, als er aufbringen könne. Offenbar hatten sich seine Schulden bereits viel länger angehäuft, als sie sich vorgestellt hatte, und statt sich ihrem Vater zu offenbaren, hatte er sich anscheinend von irgendeinem Gauner etwas geliehen. Jetzt konnte er, nach seinen kürzlichen Verlusten, auch diese Schuld nicht mehr begleichen.

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