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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Folglich war er auch nicht vor seiner Familie davongelaufen, um sich vor ihr zu verstecken. Man hatte ihm aufgelauert und ihn zusammengeschlagen. Die Farbe wich aus Sibyls Wangen, als ihr klar wurde, wie tief ihr Bruder in Schwierigkeiten steckte.
    Lan Allston verschränkte bloß die Arme vor der Brust.
    Einen Moment lang geschah gar nichts. Sibyl wandte sich ihrem Vater zu und rechnete fest damit, ihre eigene Erschrockenheit auch auf seinem wettergegerbten Gesicht zu sehen.
    Doch er runzelte nur die Stirn und sagte: » Ehrlich gesagt, überrascht es mich, dass sie die Chuzpe hatte hierherzukommen. «

ZWEITER TEIL
    DER SCHWARZE RAUCH

INTERLUDIUM
    Nordatlantik, auf hoher See
    14. April 1912
    E ulah Allston warf einen Blick über ihre Schulter, während Harry Widener sie immer tiefer in die Menge der Tanzenden am Ende der Empore lenkte. Ihre Mutter saß kerzengerade auf ihrem Stuhl, die Hände züchtig in den Schoß gelegt, und beobachtete sie mit gehobenen Augenbrauen. Eulah rollte mit den Augen. Sie wünschte, Helen würde nicht immer so eifrig wirken. Mit ihrem hochgereckten Hals sah sie, fand Eulah, wie ein Huhn aus, das sich mit Knopfaugen und zitternden Kehllappen nichts in seiner Umgebung entgehen lässt. Dabei hatte Eulah gar nicht viel Erfahrung mit Hühnern. Dennoch fand sie, dass ihre Mutter manchmal die lächerliche Eitelkeit dieses Federviehs besaß, ganz zu schweigen von ihrem gefärbten Haar, das wie eine schimmernde Federmasse auf ihrem Kopf thronte. Verärgert ließ sie sich von Harrys Hand, die fest auf ihrer Taille lag, hinter die schützende Mauer anderer Tänzer führen. Dann warf sie den Kopf in den Nacken, lächelte und schaute mit Schlafzimmerblick zu ihm empor.
    » Sie erzählten gerade von jenem Buch « , nahm sie in dem Wunsch, ihren Tanzpartner zu beeindrucken, den Gesprächsfaden wieder auf. » Le Sang de Morphée. «
    Auch nach nur kurzer Beobachtung war Eulah bereits zu dem Schluss gekommen, Harry Widener würde sich am ehesten zu einer Frau hingezogen fühlen, die seine Interessen teilte. Es gab auch Männer, die es genossen, kleine Einblicke in die Welt der Frauen zu erhalten und sie vielleicht über Kleideranproben plaudern oder über irgendwelche bekannten Persönlichkeiten klatschen zu hören. Dieser Art von Männern gefiel es, Frauen zu verstehen, sich ihnen dabei aber fernzuhalten. Bei Harry war das anders, das wusste sie. Oberflächliches Geplänkel würde bei ihm nicht fruchten. Harry mochte einer Frau vielleicht so manches nachsehen, doch interessant würde er sie deshalb noch lange nicht finden.
    » Ach das « , sagte er. » Das ist eine Art Geschichtenband. Eine Rarität. Bemerkenswerte Radierungen. Ein Reisebericht, so wie Coleridge oder wie die Geschichte der Lotusesser in der Odyssee. Sehr anstößig. Einem anständigen Mädchen wie Ihnen würde so etwas nie gefallen. «
    Sie grinste erfreut, weil sie ihn dazu gebracht hatte, ihr etwas über seine kostbare Entdeckung zu erzählen. Eulah würde nie in der Lage sein, mit einem echten Kenner über Bücher zu reden. Jedenfalls nicht so, wie es Sibyl gekonnt hätte. Genauer gesagt, redete Sibyl sogar für den Geschmack der meisten Männer viel zu viel über Bücher. Ihre ältere Schwester hatte nie das gelernt, was Eulah instinktiv begriffen hatte: dass man sich für einen Mann am interessantesten machte, wenn man sich nach ihm selbst erkundigte.
    Beim Gedanken an Sibyl verspürte Eulah einen Anflug von schlechtem Gewissen. Sibyl hatte sich so sehr gewünscht, mit ihnen zu kommen. Und in gewisser Weise wäre es auch Eulah lieber gewesen. Sie fühlte sich sicherer, wenn Sibyl da war. Ihre Schwester schaffte es, vernünftiger zu agieren als ihre Mutter und zugleich kühner und verwegener zu sein als sie. Sibyl hätte mit ihr Cafés besucht, ganz gleich, wie spät es war, und ihr hätten die Kutschfahrten durch den Bois de Boulogne ebenso viel Spaß gemacht wie Eulah. Doch die Diskussion um die Kosten der Reise war unsäglich gewesen. Sie hatte die Wortgefechte ihrer Eltern mit angehört – Streit war es nicht gewesen, denn im Hause Allston wurde grundsätzlich nicht gestritten –, spätnachts, wenn Helen und Lan davon ausgingen, dass ihre Kinder schliefen. Aber Eulah, die bereits im Reisefieber war und es nicht erwarten konnte, die Entscheidung ihres Vaters zu hören, hatte sich zur Schlafzimmertür ihrer Mutter geschlichen und das Ohr ans Schlüsselloch gelegt, um zu lauschen.
    » Hast du eigentlich eine Ahnung, was man mit

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