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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Nase und milchweiße Haut – eine junge Frau, die sich gerne zweckmäßig kleidete, heute eine knappe Weste und einen schmalen taubengrauen Rock trug und das Haar in einem Knoten hoch oben auf dem Kopf zusammengefasst hatte. Der einzige Schmuck, den sie sich zugestand, war eine kleine Brosche am Kragen. Er bestand aus einem waffeldünnen Elfenbeinplättchen mit zwei Lorbeerblättern, das in schwarzgoldene Emaille eingefasst war. Die Lorbeerblätter waren so raffiniert gearbeitet, dass man fast nicht erkannte, dass sie aus hellem, menschlichem Haar bestanden: dem von Helens Mutter. Helen selbst hatte die Brosche jahrelang getragen; es war ein Wunder, dass die Brosche nicht mit auf die Reise gegangen war. Sibyl hob einen Finger und strich kurz darüber, was sie immer beruhigte.
    Die Nadel war ein altmodisches Schmuckstück, doch auch Sibyl selbst gehörte ein Stück weit der Vergangenheit an. Mit siebenundzwanzig hatte sie sich endlich damit abgefunden, dass sie für den Rest ihres Lebens vermutlich ihrem Vater den Haushalt führen würde. Sie verschränkte die Hände in ihrem Schoß und bohrte einen Daumennagel tief in das Fleisch ihres Handballens, um sich von dem unangenehmen Drücken des Korsetts abzulenken, das auf ihrer Haut wunde Stellen verursachte. Vielleicht hatte Eulah ja doch recht gehabt, was funktionale Kleidung anging. Sie veränderte ihre Sitzhaltung, weil ihr beim Gedanken an ihre Schwester ganz mulmig im Magen wurde. Das Warten war das Allerschlimmste. Bald würden sie anfangen.
    » Wenn Sie nun bitte alle Ihre Plätze einnehmen würden « , tönte Mrs Dee von der Salontür, wo sie ohne Vorwarnung aufgetaucht war.
    Das gefeierte Medium genoss es sehr, seinen Auftritt zu zelebrieren, auch wenn das wegen Mrs Dees kleiner Statur nicht ganz einfach war. Sibyl verstand deshalb sehr gut, warum Mrs Dee immer als Letzte den Raum betrat und den Moment der Vorfreude und der Überraschung bei ihren Besuchern ausnutzte, um das auszugleichen, was ihr an angeborener majestätischer Würde fehlte. Dicklich stolperte sie in einem Humpelrock der vergangenen Saison herein und rief ihre Anhänger mit einer ausladenden Armbewegung an den Mahagoniesstisch, wie ein Schäfer seine Herde. Ein schweigsamer Butler zog für sie den am reichsten verzierten Stuhl zurück, eine besonders auffallende neogotische Scheußlichkeit auf hohen Rollen, in dem Mrs Dee deutlich größer wirkte. Sie ließ sich auf ihren Thron herab, während sich das Dutzend Bostoner in ihrem Salon zu den Stühlen begab, die ihnen von Beginn an zugewiesen worden waren.
    Sibyl kannte ein paar von ihnen; einige schon von vorher, weil man sich in der überschaubaren Bostoner Gesellschaft mit ihrem dicht gewobenen Netz aus Ehen und Verwandtschaftsbeziehungen irgendwann einmal über den Weg gelaufen war. Mr Brown stammte, wie Sibyl wusste, aus Belmont; sie war mit seiner Nichte in der Tanzschule gewesen. Mrs Futrelle kam aus Scituate; der Kummer grub mit jedem Jahr tiefere Furchen in ihr Gesicht und ließ es immer ätherischer wirken. Mrs Hilliard war im selben Donnerstagabend-Lesezirkel gewesen wie Helen. Von den beiden Miss Newells, die die schreckliche Katastrophe beide überlebt hatten, war die ältere, Madeleine, in Sibyls Nähkränzchen gewesen. Ihr Vater hatte sie in jener grauenhaften Nacht in ein Rettungsboot gesetzt, doch ihn hatten sie nie wieder gesehen.
    Jedenfalls nicht in diesem Leben.
    Sibyl zitterte, erfasst von einer Kälte, die von innen kam und ihr eine Gänsehaut verursachte.
    Die anderen Gäste, wie der bleiche Mann, der ihr gegenüber am Tisch saß, blieben Sibyl ein Rätsel. Sie wusste, dass man sich hie und da über den Weg lief, sich in einer Kirchenbank oder bei einer Veranstaltung der Colonial Society in der Ferne erblickte; möglicherweise entdeckte man auch ein Foto von dem ein oder anderen in der Evening Transcript. Doch dann tat man stets so, als würde man sich nicht kennen. Was an jedem 15. April in Mrs Dees Salon geschah, das wussten nur sie allein.
    » Das Licht, bitte « , befahl Mrs Dee dem Butler, der geflissentlich das Gas in dem Kronleuchter über ihnen herunterdrehte und sich dann zurückzog. Als er die Schiebetüren des Salons zuzog, versank der Raum in einem unheimlichen Zwielicht. Sibyl erkannte gerade noch die verschwommenen Umrisse der Menschen, die am Tisch saßen, ebenso wie die Schatten der ausgestopften Vögel in der Vitrine. Der Rest des Zimmers war finster und schwarz, der Geruch des Weihrauchs schier

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