Die Frauen von der Beacon Street
die auf der Hand lag. » Du kannst ja wohl nicht damit rechnen, dass Harlan das tut, oder? Was soll denn aus Papa werden, wenn er hier ganz alleine zurückbleibt? «
» Aber « , protestierte Sibyl, vor Wut sprühend, wie ein Kind, das das Gefühl hat, bei einem Spiel betrogen worden zu sein. Verzweifelt suchte sie nach einem Argument, vielleicht dem, dass ihr Vater schließlich sein halbes Leben lang zur See gefahren war und folglich durchaus in Boston allein zurechtkam, oder dass sie selbst auch noch jung und schön genug war, dass man durchaus in Betracht ziehen könne, sie doch noch zu verheiraten.
» Du bist so verlässlich, Sibyl « , erklärte ihre Mutter und zog damit einen Schlussstrich unter die Diskussion. » Ich sehe einfach keinen anderen Weg. Und du möchtest doch deiner Schwester ganz bestimmt keine solch große Möglichkeit verweigern, oder? «
Was folgte, war ein schrecklicher Streit gewesen, für den sich Sibyl immer noch schämte. Sie erhob eigentlich fast nie die Stimme; gewöhnlich waren es entweder Harley oder Eulah, die im Universum der Allstons Szenen machten. Vielleicht noch schlimmer als ihre anfängliche Wut aber war die Tatsache gewesen, dass Sibyl sich niemals den Gedanken verzeihen würde, den sie in jenem allerersten finsteren Moment gehabt hatte, als bekannt wurde, dass die Titanic gesunken war: dass sie nämlich erleichtert darüber war, nicht mit ihnen an Bord gewesen zu sein.
Dovie legte sanft eine Hand auf Sibyls Knie, als wolle sie sie ermuntern fortzufahren. Die Geste holte Sibyl aus ihrer Traurigkeit und ihren Schuldgefühlen zurück zu dem sonnendurchfluteten Erkerfenster.
» Ja « , sagte Sibyl. » Na gut. Nun, sie waren auf dem Weg nach Hause. Sie waren monatelang unterwegs gewesen, und ich wusste aus ihren Postkarten und Telegrammen, dass sie eine wundervolle Zeit verbracht hatten. Besonders Eulah. In Southampton waren sie an Bord gegangen, und wir alle wollten sie bei ihrer Ankunft in New York abholen. Und das Schiff, das sie nahmen, war so gewaltig und elegant, es herrschte große Aufregung, weil es die Jungfernfahrt war. Wir alle wollten mit ihnen feiern, wenn sie in New York ankamen. «
Sie hielt inne, suchte in Dovies Miene nach Verständnis, möglicherweise sogar auch nach einer Art von Vergebung. Sibyl lechzte danach, endlich von der niederschmetternden, verderblichen Last dieser Mischung aus Schuldgefühlen und Erleichterung befreit zu werden. Natürlich konnte das Dovie nicht wissen. Und selbst wenn sie gewusst hätte, was Sibyl wollte – Vergebung war nicht von ihr zu erwarten. Sibyl wusste das, dennoch suchte sie im Gesicht der jungen Frau danach. Dovie nickte langsam.
» Nun « , endete Sibyl und brachte ein stoisches Lächeln zustande. » Schätze, Sie wissen, was passiert ist. Sie kamen nie an. «
Dovie verschränkte beide Hände behutsam auf Sibyls Knie.
» Wie Sie sich vorstellen können « , fuhr Sibyl mit fast erstickter Stimme fort, » war es ein schrecklicher Schock. Für uns alle. Es stand überall in der Zeitung. Wir kamen lange Zeit nicht darüber hinweg. Und Harlan nahm es besonders schwer. Er würde es nie zugeben, aber so war es. «
Dovie lächelte versonnen, ihr Blick wurde bei der Erwähnung von Harlans Namen weicher, und Sibyl fragte sich, was er Dovie wohl über jene ersten Tage nach dem Sinken des Schiffs erzählt hatte. Wenn sie damals an seinem Zimmer vorbeikam, hatte Sibyl ihn oft gedämpft weinen hören wie ein kleiner Junge, und wenn er zu den Mahlzeiten erschien, waren seine Augen geschwollen und rot. Ihr Vater hatte eher mit Ungeduld reagiert. Einmal hatte sie mit angehört, wie er Harlan im Salon die Leviten gelesen und ihm wütend gesagt hatte, er müsse sich um Sibyls willen zusammenreißen. Damals war Sibyl sofort der Gedanke gekommen, Harlan müsse sich wohl eher um seines Vaters willen unter Kontrolle bekommen als um ihrethalben.
Als sie nun die junge Frau ihr gegenüber betrachtete, fragte sich Sibyl, welche anderen Aspekte seines Innenlebens, die er vor seiner Familie verbarg, Harlan wohl mit dieser jungen Frau hatte teilen können. Dovie sagte immer noch nichts, sondern sah sie nur mit diesen hypnotisch grünen Augen an.
» Nun. Wahrscheinlich fragen Sie sich, was das hier wohl mit … « Sie wies auf die Kristallkugel in Dovies Schoß, deren wahre Bezeichnung sie aus irgendeinem Grund nicht nennen wollte. » Als sie noch lebte, war Mutter begeisterte Anhängerin von … nun … « Sibyl zögerte. » Ach, es klingt
Weitere Kostenlose Bücher