Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
der Ideen des gesellschaftlichen Fortschritts, der wissenschaftlichen Erfahrung und des wirtschaftlichen Ausgleichs bin – auf der Erde wie auf dem Olymp. Deshalb habe ich – neben meinen sonstigen mannigfaltigen Aufgaben – die Rolle übernommen, neben der Aufsicht über den Straßenbau und den internationalen Verkehr auch noch die Märkte im Blick zu behalten. Ich will nicht prahlen, aber ich erwähne mit Freude, dass es mir gelungen ist, das wichtigste Zubehör der Wertmessung auf den Märkten – also die Bilanz, den Standard, den Gewinn und den Betrug – zu erfinden und den Menschen schmackhaft zu machen.« Großzügig, als schäme er sich für seine Prahlerei, schränkte er ein: »Genau genommen verstanden sie sich auf Gewinn und Betrug schon vorher, als es weder Standard noch Bilanz gab. Ulysses hat in der Welt auch ohne eine Bilanz ausgezeichnete Geschäfte abgeschlossen. Er hat die Phaiaken übers Ohr gehauen und sich auch darauf verstanden, nach seinen Liebesabenteuern Wertgegenstände gewisser älterer Göttinnen als Erinnerungsstücke mitzunehmen. Aber Ulysses lebt noch im Abenteuer. Die Menschheit hingegen hat genug davon: Jetzt kommen farblosere, aber nützlichere Zeiten. Vielleicht die Eisenzeit …« Hermes überlegte. »Hat er von dir nichts mitgenommen?«, fragte er dann plötzlich mit scharfem Blick.
»Mein Herz hat er mitgenommen«, sagte meine strahlende Mutter etwas hochtrabend und seufzte.
»Du bist ihn billig losgeworden«, sagte Hermes zynisch. Und als ihn meine Mutter mit tränenfeuchten Augen vorwurfsvoll ansah: »Mein liebes Kind, die Welt ist entsetzlich materiell geworden. Frage nur deine Schicksalsgefährtin Kalypso und noch einige Damen auf den Nachbarinseln, ob sich der Herumtreiber Ulysses damit zufriedengegeben hat, sich ihr Herz an den Gürtel zu binden.«
»Kalypso?«, rief meine Mutter heftig. »Die ist doch so alt wie die Landstraße! Da wagt sie noch zu klagen?«
»Ich weiß, dass zwischen euch einige Äonen liegen«, sagte Hermes besänftigend. »Trotzdem hat sie den Mann, der nach kaum einem Jahr aus deinen Armen weitergezogen ist, sieben Jahre in Liebessklaverei gehalten. Natürlich hat die alte Dame auch für ihre Gier bezahlt …«
Das war mehr, als meine Mutter ertragen konnte. Hermes’ Worte hatten sie mitten ins Herz getroffen. Sie versteckte ihr mit edlen Salben gepflegtes, strahlendes Gesicht in den Händen und weinte lautlos. Nur am Zucken ihrer göttlichen Schultern war zu sehen, dass die boshaften Worte des spöttischen, kaltschnäuzigen Gottes ihre heiligsten Gefühle und ihre Eitelkeit zugleich gekränkt hatten. Hermes legte den Kopf zurück und machte es sich im Lehnstuhl bequem. Ihm war anzusehen, dass er die Wirkung seiner Worte genoss und sich seiner Sache jetzt sicher war. Kühl, im lockeren Plauderton sprach er weiter und scherte sich keinen Deut um das tugendsame Schluchzen meiner gedemütigten Mutter.
»Weine nicht!«, sagte er von oben herab. »Lerne von unseren Geschöpfen, den Griechen. Ein Volk mit rastlosem Geist, aber sie haben Dichter und Helden. Ihre besseren Geister, beispielsweise ein gewisser Theseus, mit dem ich mich manchmal unterhalte, meinen, es lohne sich nicht, zu beweinen, was Schicksal ist.«
Hermes verstummte. Meine Mutter weinte lautlos. Über Aiaia erschien mit schadenfrohem, leuchtenden Todesgesicht der Mond. Eine Zeit lang saßen sie stumm im Mondlicht. Nur von der Küche und den Speisesälen her flatterten die ungeduldigen, rötlichen Lichter der Fackeln der Nymphen, die mit der Vorbereitung des Essens beschäftigt waren. Im Halbdunkel hörte ich aus der Nachbarschaft von Großvaters Stall leichte Schritte und Flügelrauschen. Die Moiren begaben sich auf ihren nächtlichen Flug. Mir war warm in meinem Versteck, und zugleich zitterte ich. Zum ersten Mal hatte ich streitende Götter gesehen. Mein Herz war voller Zweifel und Furcht. Ich begann, am Weltenschicksal wie am menschlichen Schicksal zu zweifeln. Aber ich wagte nicht, mich zu bewegen. Kurze Zeit später beruhigte sich meine Mutter: Sie trocknete sich die Augen und schnaubte die Nase. Dann begann Hermes zu sprechen, mit entschiedener, tief dröhnender, reifer und etwas ältlicher Stimme.
IX
»Es tut mir leid«, sagte er ernst, »dass ich dir wehgetan habe. Schreib es dir selber zu! Ich spreche jetzt nicht von den lächerlichen und kindischen Vorwürfen, die du mir anfangs in deiner Wut gemacht hast. Die habe ich schon vergessen. Ich habe viel dazugelernt seit
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