Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
Mutter tief Luft holte, als bereite sie sich auf eine wortreiche Antwort vor, rief er streng und mit dröhnender Stimme: »Im Namen des erhabenen Zeus befehle ich dir: schweig!«
    VIII
    Bei der Erwähnung von Zeus’ Namen erbleichte meine Mutter. Ihre göttlichen Lippen zuckten. Große Erregung tobte in ihrem wogenden Busen. Der Name des erhabenen Herrn der Welt war schließlich doch eine strenge Ermahnung.
    »Du hast eine kräftige Stimme«, flüsterte sie beschämt und senkte ihren flechtenschönen Kopf. »Mit ihr hast du sogar Stentor besiegt. Sprich also!«
    »Alles, was du gesagt hast«, sagte Hermes ernst und würdevoll, aber zugleich nachsichtig und verzeihend, »waren nur Gefühlsausbrüche des verletzten Herzens einer Göttin. Ich war dein Freund und möchte es bleiben.« Er legte meiner Mutter für einen Augenblick mit einer vornehmen, besänftigenden Bewegung seine behaarte Hand aufs Knie. »Ich nehme dir deine Worte nicht übel, denn es wäre unter meiner Würde und meinem Rang, die eifersüchtigen und erregten Beschuldigungen einer schönen Frau zu widerlegen. Obwohl es mir nicht schwerfallen würde.« Er sprach mit zur Seite geneigtem Kopf, in beleidigtem, aber nachdenklichem Tonfall. »Die Beschuldigungen, die du mir ins Gesicht geschleudert hast, sind allgemeiner Natur. Wir Götter haben viele hinfällige, gewöhnliche, göttliche Fehler. Lüstern sind wir, habgierig und eitel … Aber können wir denn überhaupt anders? Die große Rolle, die uns verpflichtet, der Neid, dem wir begegnen, all das hat unseren göttlichen Charakter verdorben. Wir leben im Licht, im Prunk, im Rausch des duftenden Rauches der Opferaltäre. Ist es da ein Wunder, dass auch die einst reine Tugend der Götter verdorben wurde? Meine Liebe«, sagte er leise, »irgendwann war alles anders. Das göttliche Leben war rauer, schmuckloser, aber reiner als heute. Vieles ist in der Vergangenheit geschehen, an das sich die undankbaren Göttersöhne nicht mehr erinnern.« Er beugte sich näher zu ihr hin und dämpfte seine tiefe Stimme. »Wer erinnert sich noch daran, dass es einen Augenblick gab, in dem der Gott weder einen Namen noch ein Gesicht hatte? Er wohnte über den rauchenden Bergen, nur einsam konnte man sich ihm nähern. Und dann lachte der Gott …«
    »Lachte?«, fragte meine Mutter beklommen.
    »Fünfmal hat er gelacht!«, sagte Hermes andächtig. »Und dann ist er traurig geworden. Dieser Augenblick war schrecklich. Es gibt keinen schlimmeren Moment im Weltenschicksal, als wenn der Gott zu lachen beginnt. Und wenn er dann traurig wird … Nichts ist grauenvoller!« Der Herold hob mit einer besorgten Bewegung die Hand. »Als er zum dritten Mal gelacht hat, war ich auch schon da. Und dann hat sich die Moira eingemischt! Frag nur die Moiren! Sie wohnen hier in der Nähe, beim Stall deines strahlenden Vaters Helios. Sicher kennst du sie, denn von hier, aus ihrer nahen Höhle, fliegen sie von Zeit zu Zeit aus, die lieben Töchter der schwarzen Nacht, um die bitteren, schwarzen Samen des Schicksals im Leben der Menschen und der Götter auszustreuen. Damals kam die älteste Moira zu mir. Sie hielt eine Waage in der Hand und fing eine Diskussion mit mir an über die Rechtsprechung. Und du, die du so viel weißt, hast davon nie etwas gehört? Du beschuldigst mich, Hera die Milch aus der Brust gestohlen zu haben, diese saure Weltenmuttermilch.« Er rümpfte die Nase. »Du beschuldigst mich, Hephaistos’ rostige Zange gestohlen zu haben! Klagst mich der Lüsternheit an, als wäre der geschlechtliche Rang der Rinder niedriger als der anderer weiblicher Wesen. Du, die du so naseweis und bestens in alles eingeweiht bist, weißt du denn nicht, dass es einen Augenblick gab, in dem eine Diskussion stattfand – vielleicht die einzige richtige, verhängnisvolle Diskussion auf der Welt – und in dem ich mich hinter keiner Nebelwolke versteckt habe, sondern da war, in diesem gefährlichen Moment? Ja!« Hermes’ Worte hallten in der Nacht wider. »Ich war da, als der Gott gelacht hat, denn die Moira erschien und hielt eine Waage in der Hand und begann mit mir eine Diskussion über die Gerechtigkeit.«
    »Was redest du, mein Freund«, murmelte meine Mutter verlegen, »der Gott, der kein Gesicht hatte, wollte von dir die Wahrheit wissen?«
    »So ist es«, sagte Hermes kurz. »Ich kam, um anzuklagen, und du hast alles abgestritten. Jetzt antworte ich. Du hast mich der Feigheit, niederer göttlicher Sünden und Fehler beschuldigt. Aber ich bin

Weitere Kostenlose Bücher