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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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schweigt!«
    »Dann schweig doch!«, sagte meine Mutter von oben herab, mechanisch, mit großartiger Überheblichkeit. »Schweig und klage nicht an! Du beschuldigst mich der Lüsternheit, des Zauberns, du, der du die Zahl deiner Geliebten vielleicht nicht einmal weißt. Der Augenblick ist gekommen – und du musst zugeben, dass nicht ich ihn heraufbeschworen habe –, in dem völlig offen geredet werden muss. Großartig bist du gekommen, göttlicher Dieb, als Herold und Ankläger, zu mir, der einsamen Göttin, die du gnadenloser und lüsterner Spiele beschuldigst! Was würden wohl deine verlassenen Geliebten zu dieser Anklage sagen? Artemis? Oder die thessalische Brimo? Akakallis und Daphnis, dem du eine Insel versprochen hast? Erinnerst du dich noch an deine großartige Geliebte Urania, die dir die Bastardgötter Pan und Priapos geboren hat? Alle wissen, dass du ständig Verhältnisse mit den Nymphen hattest …«
    »Das sind Männerangelegenheiten«, sagte Hermes ernst. Er blinzelte verlegen, aber ich hörte seiner Stimme an, dass die Erwähnung seiner Geliebten seinem Selbstwertgefühl schmeichelte. »Vergiss nicht, meine Liebe, dass ich ein mehrfach geschiedener und verwitweter Gott bin! Ein Gott ist schließlich auch nicht aus Stein. Niemand wird jünger, aber ich bin noch nicht einmal alt …«
    »Du hast zugenommen«, sagte meine Mutter kurz mit peitschender Stimme. »Einen Bauch hast du bekommen. Vielleicht spielst du deshalb jetzt die Rolle des Tugendwächters. Nein, Hermes, wir beide können einander nicht hinters Licht führen. Wenn es jemanden gibt auf der Erde und im Himmel, der dich gut kennt, dann bin das ich. Wenn es jemanden gibt, der kein Recht hat, gegen ein göttliches oder menschliches Wesen die Anklage der Lüsternheit zu erheben, dann bist das du. Schweig!« Hermes hatte zum Protest angesetzt. »Es ist allgemein bekannt, dass du gern mit Tieren Unzucht treibst und deinem Freund Apollon Nonios, der ähnlich niederträchtige und kranke Neigungen hat, fünfzig Rinder zu diesem Zweck gestohlen hast. Pfui!«, rief meine Mutter. »Lüstern bist du und ein Dieb …«
    »Ich bitte dich!«, sagte Hermes gekränkt und machte eine Bewegung, als wollte er aufstehen.
    »Bleib!«, kreischte meine Mutter. Jetzt war sie wie eine Furie. »Du bist hergekommen, jetzt ertrage auch die Wahrheit! Ja, du bist ein Dieb. Zuerst hast du an Heras Brust die Milch gestohlen. Schon vergessen? Du, der flinkfüßige, der du Flügel an den Sandalen und an der Kappe trägst, bist in Wirklichkeit der Anführer der Diebe! Du hast Ios’ Rind gestohlen, Hephaistos’ Zange, den toten Hektor! Meinem Onkel Poseidon hast du den Dreizack gestohlen! Deiner badenden Mutter und deinen Tanten die Kleider. Und schließlich warst du es, der Helena entführt und nach Ägypten gebracht hat.«
    »Das stimmt nicht«, sagte Hermes finster, aber mit unsicherer Stimme. Er atmete etwas schwer.
    »Jedes Wort ist wahr!«, sagte meine Mutter triumphierend. »Es stimmt genauso, wie es richtig ist, dass du Zeus’ goldene Sichel gestohlen hast, die er von Demeter geschenkt bekommen hatte.«
    »Es war Krieg«, sagte Hermes trocken und schluckte nervös. »Sogar Bürgerkrieg! Wir waren in der Schlacht. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Weltbürgerkrieg, mit allen Konsequenzen war es das, ich habe in ihm zusammen mit den anderen Göttern meine Haut zu Markte getragen. Es ging ums Weltenschicksal, als ich in den Kampf gezogen bin gegen die aufständischen Titanen, diese Bauern. Wir haben auch mit Hacke und Sichel gekämpft. Wir waren in einer kritischen Lage, und da nimmt sich ein Soldat seine Waffe da, wo er sie gerade findet.«
    »Du hast im Generalstab gesessen und warst von einer Wolke verdeckt! Ein künstlich hervorgerufener Nebeldunst hat dich und die anderen feigen Götter geschützt!«, spottete meine Mutter. »Apollon gab sich damit zufrieden, während des Weltbürgerkrieges auf seiner fünfseitigen Leier Kampflieder zur Ermutigung der Kämpfenden zu zupfen!«
    »Aufs Leierspiel verstand ich mich auch«, sagte Hermes eifersüchtig, »ich habe ja die Leier aus dem Schildkrötenpanzer erfunden …«
    Meine Mutter unterbrach ihn:
    »Aufs Leierspiel hast du dich verstanden. Aber den Kampf mit den Feinden hast du anderen überlassen.«
    »Kirke«, Hermes schüttelte den Kopf, »ich sehe, du bist hoffnungslos Frau. Erregungen steuern deinen Verstand. Die Strategie ist eine große Wissenschaft. Gestatte mir ein Wort«, sagte er ernst. Und als meine

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