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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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historische Grundlage hat? Lächerlich!« Menelaos spuckte wieder aus. »Solche Nachrichten können nur oberflächliche, vom Tageslohn ihr Leben fristende Sänger im Kreis des Volkes verbreiten. Mit Paris wäre ich auch allein fertiggeworden. Obwohl mich mein Alter und mein Rang nicht dazu verpflichteten, habe ich angeboten, mir im Zweikampf Genugtuung für die Ehre meiner Frau und das verletzte Gastrecht zu verschaffen … Leider sind die Ereignisse über das Maß einer individuellen Kränkung hinausgewachsen. Unser Volk ist arm. Auch auf den Inseln herrscht große gesellschaftliche Unzufriedenheit, weil es zu wenig Nahrung gibt. Manchmal kann man die inneren und äußeren Folgen einer Wirtschaftskrise nur mit einem Krieg ableiten. Aber davon will ich in meinen Memoiren nicht sprechen«, sagte er finster und brach plötzlich seine Rede ab.
    Ehrfürchtig schwiegen wir und lauschten untertänig dem weindunstigen Schnaufen des Heerführers. Einige Minuten lang lag er mit geschlossenen Augen reglos in den Seidenkissen, als hätten ihn die schnell fließende Rede und die Erinnerungen ermüdet.
    »Palamedes!«, sagte er plötzlich und setzte sich auf. Seine tränenden Augen richtete er auf mich. »Du fragst, wer er war und warum dein edler, genialer Vater ihn beneidet, gehasst und schließlich getötet hat? Schwerwiegende Frage, Junge. Von Palamedes in Worten der vollen, glaubhaften Wahrheit zu sprechen, ist verdammt schwer. Er war Argeier, wie ich selber auch. In der Sprache der Argeier bedeutet sein Name Der-das-Schicksal-herausfindet, aber er war auch Der-mit-der-Hand-geschickt-ist. In Wirklichkeit war er nicht nur mit den Händen geschickt. Mit seinem Geist, der Kraft seines Gehirns, übertraf er seine Zeitgenossen. Die historische Wahrheit ist, dass Nauplios’ Sohn der Begabteste aller meiner Generäle war. Er war es auch, der im Trojanischen Krieg mit seinen Erfindungen das griechische Heer gerettet hat! Passt du auf, Kind? Was fragst du? Lauter! Was Palamedes erfunden hat? Das wäre schwer auf einmal zu sagen. Wie Daidalos und Prometheus hat auch er der Menschheit große Geschenke gemacht. Er hat weder das Fliegen noch das Feuer erfunden, aber er erfand den Buchstaben! Jetzt schaust du! Ja, er hat die Buchstabenschrift erfunden, diese teuflische und geheimnisvolle Kunst, mit deren Hilfe man die Lebensmittelverteilung in unserem Heer erfolgreich organisieren konnte, als die Hungersnot ausbrach! Später erzählte man sich, er hätte das Geheimnis der Buchstabenschrift aus Phönizien gestohlen. Doch das sind nur kindische Vermutungen. In Wirklichkeit hat er mit seinen scharfen Augen den Kranichflug beobachtet, besonders in der Morgendämmerung im Frühherbst, wenn am Himmel dicke Wolken hängen und der Himmel aussieht wie der trächtige Bauch eines weiblichen Esels. Palamedes beobachtete den Kranichzug am Herbsthimmel, und diese Vogelformationen gaben ihm die Inspiration, die ersten Buchstaben zu erfinden. Du sperrst den Mund auf, ich sehe schon. Er hat auch den sechsseitigen Spielwürfel erfunden, und auch diese Erfindung hat sich in der Zeit der Hungersnot als ausgezeichnetes Mittel dafür erwiesen, die Aufmerksamkeit der Achäer und Argeier von ihrem knurrenden Magen abzulenken. Er hat die Zahlen erfunden und auch, wie man ohne Zahlentafel mit den Fingern komplizierte Mal- und Geteiltaufgaben lösen kann. Seine militärische Organisationsfähigkeit hat die griechische Kriegsführung wahrhaftig revolutioniert. Wieder lehrte ihn der Flug der Kraniche, beim Angriff die Truppen in der Richtung des geringsten Widerstands in Reihen aufzustellen. Von den barbarischen Heerführern des Ostens hat er das Geheimnis abgeschaut, wie man zur Zeit des Neumonds die auf weißen und schwarzen Pferden in den Sturm gehenden Kämpfer in unterschiedliche Himmelsrichtungen aufstellen muss. Die Anziehungskraft des Mondes treibt die verschiedenfarbigen Pferde während des Angriffs, je nach Himmelrichtung, immer wieder an! Er war ein Genie!« Menelaos keuchte vor Begeisterung. »Gib mal die Würfel her!«, sagte er zu dem Diener, der seinem Herrn mit einer erschrockenen und schnellen Bewegung einen ledernen Becher und zwei sechsseitige Elfenbeinwürfel mit verschiedenen schwarzen Punkten reichte.
    Menelaos ließ die Spielwürfel im Lederbecher klappern und schüttete sie dann vor sich. Langsam, mit viel Mühe, ungeübt und besorgt zählte er.
    »Sieben«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Eine heilige Zahl. Palamedes wusste auch

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