Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
du die Wahrheit über deinen strahlenden, aber niederträchtigen Vater hörst. Diese Wahrheit ist gewiss schmerzlich. Da du deinen Vater nicht kennst, wird es dir leichter fallen, diesen Schmerz zu ertragen. Denn die Wahrheit lautet, dass ich der einzige Mann unter den Zeitgenossen bin, der Ulysses wirklich kennt.«
Mit offenem Mund hörte ich ihm aufmerksam zu.
»Und vielleicht noch der alte Nestor«, sagte der Heerführer nachdenklich. »Auch dieser alte Held weiß zweifellos viel. Leider ist er ein notorischer Trinker, deshalb kann man nicht jedes seiner Worte für bare Münze nehmen. Als mich dieses bedauerliche familiäre Unglück ereilte, das … äh … mit einem Wort, das den Trojanischen Krieg ausbrechen ließ …, hat mich Nestor beim Wein getröstet und mit beschwipstem Kopf von ähnlichen Schicksalen antiker Helden erzählt.« Menelaos brummelte etwas verwirrt. »Ich kann nicht leugnen, dass mir sein Trost damals guttat. In meiner Familie, in der Familie der hehren Pelopiden, hat es auch früher schon viel Unglück gegeben. Meinen großen Ahnen Tantalos ereilte ein schreckliches Ende. Sein Gedenken war eine traurige Mahnung für uns, seine Nachkommen, den Familienfrieden zu pflegen, unsere übermäßigen Leidenschaften zu bremsen und an einem Miteinander von Göttern und Menschen zu arbeiten. Deshalb habe ich immer zärtliche Gefühle für Agamemnon gehegt, meinen jüngeren Bruder edlen Angedenkens, und meine Frau, die göttliche und strahlende Helena, geehrt. Ich liebe das Familienleben«, sagte Menelaos sentimental und blinzelte. »Als Thyestes in Mykene mit Gewalt den Familienthron besetzt hat und Agamemnon und ich vor meinem wilden Vatersbruder Atreus nach Sparta geflohen sind, fasste ich in meinem Herzen den Entschluss, mich nicht mehr mit öffentlichen Angelegenheiten zu befassen, sondern eine Familie zu gründen und als arbeitsamer Privatmann bescheiden ein glückliches Leben zu führen. Mein seliger Schwiegervater Tyndareos hatte vergessen, mich über die Grundnatur seiner Töchter aufzuklären. So gewann ich die Hand von Helena, meiner großartigen Frau, und mein Bruder Agamemnon entbrannte in heftiger, aber nicht hoffnungsloser Liebe zu meiner Schwägerin Klytaimnestra. Den Rest weißt du schon, Junge!« Er seufzte. Überrascht sah ich, dass in den Augen des Heerführers Tränen glänzten. »Mein Bruder wurde von meiner Schwägerin ermordet. Sie haben ihn abgestochen wie ein Tier. Und ich selbst war gezwungen, die besten Jahrzehnte meines Mannesalters auf dem Schlachtfeld zu verbringen, um die verletzte Ehre meiner großartigen Frau zu rächen! Es ist sehr schwer, wahres Familienglück zu erfahren, wenn der Mensch die Götter nicht richtig darum bittet!«, sagte er und hickste.
Die Mitteilsamkeit des großen Mannes machte mir Mut. Ich beugte mich vor und fragte mit ehrfürchtiger Neugier:
»Verzeih mir meine Unwissenheit! Ich bin ein Junge vom Dorf. Wie muss man die Götter richtig bitten?«
Menelaos winkte niedergeschlagen ab:
»Das ist eines der großen Geheimnisse.« Er schniefte. »Wir Menschen lernen nicht rechtzeitig die Art des Umgangs mit den Göttern. Wir quälen sie mit unseren Wünschen, aber wir haben keine Erfahrung darin, unsere Sehnsüchte richtig zu formulieren. Die Formulierung ist alles!« Mit einer großen Bewegung breitete er die Arme aus. »Du hast gesehen, Kind, wie vorsichtig und überlegt ich meine Memoiren diktiere. Die Menschen wünschen sich das Falsche, sie reden wirr, und dann wundern sie sich, wenn die Götter ihre übereilten Sehnsüchte erfüllen. Pass auf, Junge!« Der Fürst schlug einen vertraulichen Ton an und beugte sich vor. Er sprach leise, damit die Diener ihn nicht hören konnten. »Du kannst deiner Mutter sagen, dass mein Familienglück schon vor dem Raub meiner Frau nicht vollkommen war. Meine großartige Frau Helena ist ein prächtiges Geschöpf. Diesen eitlen, schönen Bengel Paris, den ich später leider häuten und zerstückeln musste, kannte ich schon länger … ich meine, bevor er den Grund dafür schuf, den Heiligen Krieg in Gang zu setzen. Sag deiner großartigen Mutter, dass mein Herz voller Selbstanklage ist, weil ich nicht rechtzeitig den Willen der Götter erkannte. Einmal pilgerte ich vor der Pest nach Delphi mit diesem Bengel an meiner Seite, ich mag nicht einmal seinen Namen aussprechen!« Vornehm, aber überraschend zog er die Nase hoch und spuckte verächtlich auf den Teppich. »Ja, ich ging mit Paris nach Delphi zum Orakel, wo
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