Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
ratsam gewesen, diesen Kunstgriff rechtzeitig von meinem seligen Vater zu lernen. Leider habe ich das versäumt. Ich altere gekränkt. Sicherlich sieht er – im Hades, wo er jetzt haust – deswegen mit Verachtung auf mich. Er konnte treulos sein, er konnte sich erneuern. Er konnte unbarmherzig sein, auch gegenüber sich selbst. Er konnte gleichgültig sein … und jetzt, da auch in meinem Leben die Nebelwolken aufsteigen, glaube ich manchmal, klarer zu sehen in der Angelegenheit der Menschen und meinen Vater besser zu verstehen: Vielleicht ist die Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen die einzige echte Art des Erbarmens. Wer liebt, fordert. Wer gleichgültig ist, erträgt. Mein Vater ertrug die Schicksalsschläge, so wie er auch die Scherze des Glücks ertrug. Er konnte alt werden. Und er sagte weder noch zeigte er, was er dabei empfand. Ich glaube, das ist das menschliche Geheimnis.
    Aber ich will hier nicht philosophieren. Darauf verstehe ich mich nicht, und dann wäre es auch meinem Rang nicht angemessen, da ich ja königliches Blut in mir habe. Das Philosophieren ist Arbeit und daher eine Aufgabe für Menschen niederer Geburt. Mein Vater war König, also philosophierte er nicht. Manchmal erzählte er eine seiner Geschichten, oft log er, und immer handelte er entschlossen. Deshalb genoss man überall, wo er hinkam, seine Gesellschaft, aber zugleich fürchtete man sich vor ihm und mochte ihn nicht wirklich. Die Frauen umschwärmten ihn, hörten sich sein schmeichelndes Schnurren an, ließen sich in seine Arme fallen, badeten ihn, speisten ihn, legten sich in sein Bett … Aber liebten sie ihn? Wenn ich diesen Zweifel ausspreche, dann verlangt der Respekt des Sohnes von mir, dass ich über das Verhalten meiner großartigen Mutter Penelope schweige. Sie ist eine wunderbare Frau, und die Nachwelt ehrt in ihr zu Recht das Ideal der Ehe. Aber ich glaube, meinen Vater hat auch sie nicht geliebt. Obwohl sie nur wenig Gelegenheit hatte, ihn wirklich von Herzen lieben zu lernen, konnte sie sich dennoch niemals völlig von ihm losreißen. Die Frauen erinnerten sich – im Herzen gegensätzliche, manchmal stürmische Gefühle – immer an meinen strahlenden Vater. Besonders die Frauen, die ihm Kinder gebaren und die er dann sofort verließ. Es lebten mehrere solcher Frauen in Argos.
    Dennoch bin ich der Wahrheit die Feststellung schuldig, dass unter den vielen Frauen, die kürzere oder längere Zeit in den muskulösen und vielerduldeten Armen meines Vaters lagen, eine war, die er – vielleicht – geliebt hat. Diese Frau war nicht mehr jung. Ihr Name war Kalypso. Sie war eine Nymphe und lebte einsam auf einer Insel. Als ich auf den Spuren meines Vaters umherfuhr, besuchte ich auch diese ältere Dame. Sie empfing mich zurückhaltend, aber später fasste sie Vertrauen und erzählte mir viele interessante Details über den Charakter meines Vaters. Zu Ulysses’ besonderen Fähigkeiten gehörte, dass er mit Leichtigkeit die Gunst älterer Frauen und betagter Göttinnen gewinnen konnte. Er war der Meinung, dass ein Mann ohne die Hilfe bejahrter Frauen und erfahrener Göttinnen weder im Leben noch in der Unsterblichkeit vorankommen kann. Diese Lehre habe ich mir zu Herzen genommen. Meine wunderbare Frau Kirke ist auch nicht mehr taufrisch. Manchmal unterhalten wir uns über meinen Vater, in mondlosen Nächten auf der Insel Aiaia. Es braucht Zeit, bis ein Sohn seinen Vater versteht – wenn es so ein Vater war wie Ulysses –, und später die Frauen, die Männer, die Göttinnen, die Götter. Aber dank der Krumen, die mein Vater auf seinen Irrfahrten fallen ließ und die ich dann aufsammelte, bin ich für den Rest der Zeit nicht mit völlig leerem Tornister unterwegs.
    Vieles wusste ich nicht an jenem Morgen, an dem ich an der Seite meines als Bettler verkleideten Vaters nach Ithaka aufbrach, um die Freier zu töten – vieles wusste ich nicht, was ich heute weiß. Es wäre undankbar gegenüber seinem Andenken, meine Erfahrungen zu verschweigen. Wir Menschen von königlichem Blut verbrachten – getreu den edlen Traditionen unserer Familie und unseres Ranges – unser Leben damit, zu rauben und zu morden. Aber jetzt, da ich alt werde, denke ich manchmal, dass es auch andere Arten menschlicher Tätigkeit gibt. Wer weiß, vielleicht ist das Denken ja ein genauso aufregendes und abenteuerliches Unternehmen wie das Handeln. Ist es möglich – ich spreche diese Frage aus, obwohl ich spüre, dass sich nicht einmal die Fragestellung

Weitere Kostenlose Bücher