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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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In diesem Augenblick interessierten ihn offensichtlich weder die Götter noch die Menschen. Seine Augen waren trüb. Einen Arm legte er mir um die Schulter, mit einer altbekannten, vertrauten und jetzt besonders hilflosen Bewegung. Mit seinen trüben Augen sah er sich um, als wollte er Ithaka erkennen. Aber sein Blick war teilnahmslos und blieb an keiner Person, an keinem vertrauten Detail der Landschaft hängen. So stammelte er mit erkaltenden Lippen:
    »Heim!«
    Ich erstickte fast an meinem Schluchzen, ich beugte mich über ihn, meine Tränen flossen auf sein wächsern gelbes Gesicht.
    »Du bist heimgekommen, hehrer Gebieter!«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Doch er winkte ab, dass er es nicht so gemeint hatte. Mit einer kraftlosen Bewegung streckte er die Hand aus. Zwischen zwei Zypressen war die Bucht des weinfarbenen Meeres zu sehen, in der wir in glücklichen Jahren oft gebadet hatten, in der seine Schiffe schaukelten und von der er zu seinen langen Reisen aufgebrochen war. Er zeigte auf die Bucht, und in seinen gebrochenen Augen blinkte für einen Moment wieder Bewusstsein auf. Er sagte laut:
    »Das Meer …«
    Auf Griechisch sagte er dieses Wort, klar, verständlich, ohne kephallenischen Dialekt. In diesem Augenblick drängten wir uns alle um ihn: ich, seine Frau, seine legitimen und unehelichen Söhne, seine Diener und Diebe, seine Geliebten, die ihm vertraut und die ihn verraten hatten. Auch sein Mörder, mein hehrer Mann Telegonos, beugte sich ergriffen über den Sterbenden. Wir warteten, was er wohl über das Meer sagen werde.
    Das Wort verklang in der tiefen Stille wie das Kreischen eines Wasservogels. »Thalatta«, hatte er gesagt. Und nichts anderes. Sein Kopf sank mir auf die Schulter. Der große Erzähler, ich spürte es, der göttliche Lügner, der wunderbare Redner war für immer verstummt. Auch wir schwiegen lange.
    Dann brachten wir seine Leiche ins Haus, zündeten Fackeln an und verrichteten die Opfer. Wir begruben ihn am Rand der Bucht zwischen zwei Zypressen, nah am Meer. Seine Gebote erfüllten wir gewissenhaft. Ich heiratete seinen Sohn Telegonos, und Telemachos nahm Kirke zur Frau. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit zogen wir alle vier auf das Gut meiner hehren Schwiegertochter auf der Insel Aiaia, wo die Morgenröte Tanzsäle hat. Hier leben wir. Jetzt habe ich alles über meinen seligen Mann gesagt. Oder jedenfalls alles, was ich sagen kann. Ich glaube, so war er – oder so ähnlich. Aber in Wirklichkeit kann ich nicht wissen, wie er war – ich war ja nur seine Frau.

Zweiter Gesang
    Telemachos

I
    Mein seliger Vater achtete das Privateigentum nicht. Das ist nur natürlich für einen König.
    Als ich mich – während seiner jahrelangen Abwesenheit – manchmal auf den Weg machte, um die Orte zu besuchen, an denen der große Irrfahrer sich kürzere oder längere Zeit aufgehalten hatte, kamen die Zeitgenossen und Augenzeugen, die Gelegenheit gehabt hatten, in seiner Gesellschaft zu leben, nach den anfänglichen Höflichkeiten immer wieder auf eine Sache zurück: dass mein Vater besonders überheblich und vergesslich sein konnte, wenn es darum ging, die gemeinsame Beute zu teilen. Diese Feststellung hörte ich nicht nur von seinen wenigen Kampfgefährten, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren und lamentierend klagten, mein Vater habe sie benachteiligt, sondern auch von seinen Gastgebern, ja sogar von einzelnen weiblichen Personen, die zwar Tugendhaftigkeit heuchelten, in Wirklichkeit aber damit prahlten, dass mein Vater irgendwann in ihrem Haus zu Gast gewesen sei.
    Diese vorsichtig wispernd vorgetragenen Beschuldigungen kränkten meinen Sohnesstolz. Ich beschloss, den Vorwürfen auf den Grund zu gehen. Deshalb machte ich mich eines Tages auf den Weg. Ich bereiste die Inseln und die Orte auf dem Festland, an denen mein Vater sich längere Zeit aufgehalten hatte. Ich sprach mit seinen Gastgebern, sprach mit allen seinen Kampfgefährten, die am Leben geblieben waren, sprach mit den Achäern, die aus dem Blickwinkel ihrer kleinlichen, provinziellen Lebensauffassung die wirkliche Größe seines Charakters und seiner Persönlichkeit nie begriffen hatten. Ich sprach mit den Frauen, die glaubten, meinen Vater zu kennen, weil der große Verehrer ein paar Nächte oder hin und wieder eine halbe Stunde auf ihrem Lager verbracht hatte. Ich sprach mit seinen Söhnen, meinen richtigen und illegitimen Halbbrüdern, die ihren hehren Erzeuger meist nicht persönlich kannten und mir voller Angst, Eifer und

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