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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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mit meinem Rang verträgt –, ist es möglich, dass das Denken nur eine Art des Handelns ist? Die Dichter, die wir in unserem Haus hielten, wissen etwas darüber. Das Abenteuer hat offensichtlich viele Gestalten, nicht nur die, die wir königlichen Menschen kennen.
    Auf einer meiner vielen Reisen, an einem nach Most riechenden Morgen, lief mein Schiff wieder einmal in den Hafen von Pylos ein, wo mich viele Jahre zuvor – in der unruhigen Zeit, als ich in der Welt die Spuren meines Vaters suchte – der alte Nestor, der Sieger von Gerenia, gastlich empfangen und mit Ratschlägen beschenkt hatte. Der alte Held – auch in der Schlacht vor den Mauern Ilions war er eher ein Weiser und Ratgeber als ein Kämpfer gewesen – nahm mich freundlich auf. Nach dem Mahl lagen wir auf dem schattigen Balkon seines Palastes, und ich musste von Ithaka erzählen, vom wechselhaften Geschick der heimgekehrten Achäer, vom rätselhaften Verschwinden meines Vaters und der erneuten Strohwitwenschaft meiner Mutter. Nestor hörte meine Erzählung mit der gleichmütigen Höflichkeit alter Menschen an. Mit feuchten, blinzelnden Augen sah er in das gedämpfte Herbstlicht. Struppige Palmen wiegten sich im Wind, und ätolische Sklaven führten Tiger und Panther an silbernen Ketten auf den Gartenwegen spazieren. Mein alter Gastgeber hob die knotige, von der Gicht gekrümmte Hand und sagte unvermittelt:
    »Mein Sohn, das Abenteuer ist ein großes Geheimnis. Als ich jung war, war ich unterwegs auf der Suche nach Beute wie dieser Tiger.« Er streckte die Hand aus und zeigte auf eine Bestie mit zuckendem Körper. »Aber jetzt bin ich alt und weiß, dass eine Palme genauso abenteuerlich leben kann wie ein Tiger oder Panther.«
    Mit seinem gekrümmten Zeigefinger wies er auf eine hundertjährige Dattelpalme mit sehnig gerilltem Stamm und einer Krone mit tiefgrünen Ästen und rot-gelben Blütendolden. Diese Äußerung des weisen Weggefährten meines Vaters überraschte mich. Aber Nestor achtete nicht auf mich.
    »Am Tage kämpft sie mit dem Regen und dem Wind«, sagte er brummend, als spräche er zu sich selbst. »Sie bewegt sich nicht. Aber in ihr steckt eine große Kraft. Das wussten wir nicht, als wir jung waren, dein Vater, ich und die anderen«, sagte er gleichmütig.
    Später fügte er noch hinzu:
    »Das ist es, was dein großartiger Vater auch heute noch nicht weiß.«
    Er machte eine Handbewegung, dass er schweigen will. Er hatte keine Lust, weiter über meinen Vater zu sprechen.
    III
    Ich schwieg verblüfft; dann verabschiedete ich mich und begab mich auf den Weg. Weiter ging die Reise zwischen den Inseln, auf den Spuren meines Vaters. Der Lichtbringer hatte ganz gewiss keinerlei Veranlagung, sich auf jene weisen Abenteuer einzulassen, die Nestor mit dem Leben einer Palme verglichen hatte. Er war eher ein Panther, ein Gemisch aus Panther und Tiger, witternd, von Blut leicht trunken werdend, ein Geschöpf des Zeus auf der Suche nach Beute. So glaubte ich. Aber später versicherten mir die Frauen, die einmal in seinen Armen gelegen hatten, er sei in Wirklichkeit weder Tiger noch Palme gewesen. Was war er denn?
    Ein Mensch.
    Jetzt verstehe ich das. Was von meinem Vater in Erinnerung bleibt, hat nicht viel mit ihm zu tun. Er war mehr als die Intrigen, Listen, Übel- und Heldentaten, mit denen die menschliche Phantasie damals sein Andenken herausputzte. Man erzählte sich, mein Vater sei irgendwann – am Anfang der Zeit und der Erinnerung, also am Anfang des menschlichen Bewusstseins – ein Gott gewesen. Es hieß auch, er sei ein Heros gewesen, eine Art Mittelwesen zwischen Menschen und Göttern. Es gab Zweifler, die seine Existenz leugneten und es wagten zu beteuern, dass mein Vater gar nicht gelebt habe, dass er alles in allem nur eine Schattengestalt sei, Vision einer Dichtung. Diese lächerlichen Gerüchte lohnt es nicht einmal zu bestreiten. Aber worüber man nicht redete – vielleicht, weil es unbekannt war, vielleicht, weil es schwer zu beweisen ist –, war, dass mein Vater das erste Lebewesen in unserer Welt war, in dem sich der göttliche und der menschliche Ursprung teilte. Zuvor, in der unklaren und nebligen Sphäre, die man Zeit nennt, waren die Götter noch ein wenig auch Menschen und die Menschen hatten etwas Göttliches. Mein Vater war das erste Wesen, das hier, am westlichen Rand des Mittelmeeres, wo die menschenartigen Menschen leben – also nicht die Laistrygonen, Einäugigen, Fischschwänzigen und andere elende Krüppel,

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