Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
die feine Farbe auf ihren Lidern nicht zu verschmieren.
»Es tut mir leid«, sagte ich taktvoll, »dass meine Anwesenheit Erinnerungen weckt, die dich betrüben.«
»Bedaure es nicht!«, sagte sie lebhafter. »Ich wiederhole, ich habe dich erwartet. Du ähnelst deinem Vater, und diese Ähnlichkeit ist auch heute noch eine Art Empfehlungsbrief in diesem Haus. Ich weiß, was dich zu mir geführt hat: Du fürchtest dich vor deinem Vater und sehnst dich zugleich danach, die Wahrheit über dieses entsetzliche Wesen zu erfahren. Ist es so?«
»Göttliche Frau«, antwortete ich, »ich sehe, du kannst in Menschenherzen lesen.«
»Das ist unsere Berufung«, sagte Kalypso erhaben und verächtlich zugleich.
»Ich leugne nicht«, entgegnete ich und seufzte tief, »dass ich mich vor meinem Vater fürchte. Ich möchte seine wahren Absichten erfahren. Herrin!« Ich fasste Mut und sah meiner Gastgeberin mit weit offenen Augen ins Gesicht. »Habe Nachsicht mit mir. Schließlich bin ich sein Sohn. Ja, an meinem Schicksal ist nichts Außergewöhnliches. Höchstens vielleicht, dass ich der Sohn eines außergewöhnlichen Mannes bin. Das ist kein leichtes Schicksal.«
»Nein«, sagte die Nymphe in besänftigtem Ton. »Sprich!«
»Meine erste Erinnerung an ihn«, fuhr ich leise und vertraulich fort, »ist, dass er mich töten wollte. Er wollte mit dem Pflug über meinen Kinderkörper fahren, mit dem Pflug, vor den er ein Pferd und einen Ochsen gespannt hatte. Ein fremder Mann legt mich mit starken Armen gewaltsam vor das Pferd, den Ochsen und den Pflug, und in dieser schrecklichen Lage sehe ich meinen Vater, der wie ein Wahnsinniger mit den Augen rollt und dabei die Hörner des Pflugs und die Kandare der Jochtiere fest gepackt hat. Und ich armes Würmchen winde mich auf der Erde und warte, dass das schreckliche Wesen das verhängnisvolle Gespann über meinen kleinen Körper fahren lässt. Ich warte darauf, dass er mich tötet. Das ist die erste Erinnerung an meinen Vater.«
»Aber dann hat er dich nicht getötet«, sagte Kalypso.
»Nein«, fuhr ich fort. »Er ist aus meinem Leben verschwunden. Und zugleich war er immer auf sonderbare Weise zugegen. Stell dir, göttliche Frau, eine Jugend vor, die ständig von der schrecklichen Erinnerung überschattet wird. Ich wusste, dass man ihn in Delphi, wo die schwefligen Dämpfe aus der Erde steigen und nervöse Priesterinnen sich unter der Wirkung dieser Gase gegen Belohnung mit Prophezeiungen beschäftigen, dass man ihn dort glauben gemacht hat, seine Söhne würden ihn eines Tages töten. Meine Mutter und meine Amme haben mich als Jugendlichen mit solchen Geschichten unterhalten. Was rätst du, Göttin? Schließlich hat er sieben Jahre lang hier mit dir gelebt. Wer kennt ihn, wenn nicht du? Hier und hier!« In meiner Erregung stand ich auf und fuchtelte herum, mit beiden Händen zeigte ich auf die Einrichtungsgegenstände des prächtigen Saales. »In diesen Räumen hat er Lager gehalten, während wir auf ihn warteten! Während meine hehre Mutter und ich selbst in der Gesellschaft der plündernden Freier die Zeit totschlugen und retteten, was vor dem Verprasstwerden noch zu retten war!« Ich versuchte, mich zusammenzureißen, aber ich spürte, dass die Erregung meine Stimme weiter anheizte. »Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, das wirst du wahrscheinlich auch anerkennen.«
Kalypso sah mich zufrieden und unter geheimnisvoll halb geschlossenen Lidern an.
»Hier hat er mit mir gesessen, während ihr gewartet habt«, sagte sie leise und stolz.
»Ja«, sagte ich demütig, zähneknirschend. »Die Jahre vergingen. Seine Gestalt ballte sich in unseren Köpfen zu etwas Riesigem zusammen, wie der Schatten der Titanen am Himmel. Wir liebten ihn und zitterten bei dem Gedanken, dass er heimkommt. Eines Tages kam er heim. Den Rest weißt du.«
»Und du fürchtest dich immer noch vor ihm«, flüsterte die Nymphe verständnisvoll und vertraulich.
»Wundert dich das?«, fragte ich. »Ich habe einen Vater zurückerwartet. Und es kam ein Blutrichter. Ich habe auf Segen gewartet, aber in seinen Augen flackerte der Argwohn. Er hat gemordet und ist dann verschwunden. Meine arme Mutter, die erhabene Penelope, lebt wieder in einer Art künstlicher Witwenschaft.«
»Wie alle Frauen, sogar die Göttinnen, die Ulysses irgendwann in die Arme geschlossen hat«, sagte Kalypso kalt.
Ihre Stimme war streng, seltsam reif und traurig. Diese Stimme zwang mich zu verstummen. Sie gab mir zu verstehen, dass
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