Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
perfekt, wie ich es noch nie gesehen hatte. Die Bedeutung ihres Namens, um den sich in der menschlichen Welt so viele Sagen rankten, erschloss sich mir jetzt, als ich in ihre grüngrauen Augen sah, besser – meine Mutter nannte sie zwar eine Vettel und Schnepfe, aber andere, sachlicher Urteilende nannten sie die Verschleierte, und die menschliche Phantasie schmückte meine Gastgeberin noch mit vielen anderen Attributen. Diese Nymphe, die alte Geliebte meines Vaters, hatte etwas Erregendes und Anziehendes an sich … Der Mann, der in ihrer Gesellschaft verweilte, fühlte sich sonderbar verborgen und behütet. Keinen Augenblick lang kam mir der Verdacht, ich hätte eine Ränkesüchtige vor mir. Mütterlich war sie, aber so, wie die Frauen zu Anbeginn der Zeiten, als sie nicht ein Kind, sondern die Menschheit wiegten. Erhaben war sie wie die Göttinnen, die wissen, dass nur Eros die wilden Leidenschaften von Göttern, Titanen und Giganten sowie von Menschen lindern kann. Eine Frau war sie, die jetzt genug von meinem prüfenden Blick hatte; mit einer gewissen Verlegenheit, die sie gekonnt kaschierte, öffnete sie ihren perlenbestickten Beutel, holte ihre Schminkutensilien hervor und ging ungeniert, mit einer weltläufigen Bewegung daran, ihre Augenbrauen und den die Stirn beschattenden, rot-bronzenen Pony zu richten.
Ich will nicht so tun, als ob mir die Schönheitsmittel der Frauen völlig unbekannt gewesen wären. Die Zeit, als ich mich mit der Gunst der weniger tugendhaften Dienerinnen unseres Königreichs in Ithaka und ihren nach Oliven schmeckenden Küssen begnügt hatte, war vorbei. Die Erinnerung an meinen Vater mahnt mich jedoch, nicht mit den Frauen zu prahlen, die irgendwann in meinen Armen gelegen haben. Ich erwähne deshalb nur diejenigen, über die ich aus Gründen der historischen Glaubwürdigkeit nicht schweigen darf.
Nausikaa, Kalypso, dann meine hehre Frau Kirke, später andere, die ich auf meinen Reisen kennenlernen sollte. Die Thesprotierin Kallidike, dann Euippe, deren Sohn, den edlen Euryalos, einen meiner Halbbrüder, mein Vater auf Zureden meiner hehren Mutter Penelope unterwegs tötete (ich erinnere mich nur undeutlich an diesen Jungen, denn auch dieses Intermezzo war nur eine Folge der Nervosität, die bei meinen Eltern im fortgeschrittenen Lebensalter zum Vorschein kam, und – ehrlich gesagt – scherte sich sowieso niemand darum). All diese Frauen, die später dank meines Vaters am Horizont meines Lebens auftauchten, waren vornehm und in die Geheimnisse der Schönheit und Körperpflege eingeweiht. Als ich zum ersten Mal bei meiner Tante Helena in Sparta war, fiel mir auf, dass diese berühmte Schönheit sich Gesicht und Unterlider mit grüner und schwarzer Farbe bemalte. Jetzt, als Kalypso ihren vierteiligen Farbkasten aus dem Beutel nahm, um mit einer feinen Hasenpfote die Linien ihrer Augenbrauen zu korrigieren – mit einer Hand hielt sie sich einen Messingspiegel in Form eines Falken vors Gesicht –, konnte ich nicht umhin, unwillkürlich nach dem kunstreich gestalteten Schächtelchen zu greifen.
Kalypso ließ ohne Widerstand zu, dass ich ihr die Farbschachtel aus der Hand nahm und sie untersuchte.
»Wunderbar«, sagte ich, »so etwas habe ich in Sparta zuerst gesehen.« Ich konnte es nicht lassen, mit meinen vornehmen Bekannten zu prahlen.
Die Nymphe zeichnete gerade mit einem roten Stäbchen ihre wunderbaren Lippen nach, deren Schwung an den Bogen des Achilleus erinnerte. Unbekümmert schminkte sie sich, als wäre sie es gewohnt, dass ihr göttlicher Rang sie in Gesellschaft von Menschen vom Zwang jeglicher Verstellung und Schamhaftigkeit befreite.
»Ich weiß«, sagte sie beiläufig und hob den Messingspiegel hoch. Mit seitlich geneigtem Kopf betrachtete sie ihre Schönheit. »Deine Tante Helena lässt ihre Mittel von demselben ägyptischen Kosmetikhändler kommen wie ich. Ein Geschenk deines Vaters.« Sie wies auf die Schachtel, die ich in der Hand hielt. »Im vergangenen Herbst schickte er sie mir durch einen thesprotischen Boten«, sagte sie hochmütig.
Ich erwiderte nichts, denn ich dachte an meine edle Mutter, die zu dieser Zeit auf der Insel Mantinea dahinvegetiert und keinerlei Nachricht oder Geschenk von Ulysses bekommen hatte. Es schmerzte mich zu hören, dass mein Vater seine früheren Geliebten mit Geschenken überhäufte, während seine rechtmäßige Gattin einsam und bescheiden leben musste. Eine Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.
»Meine Mutter, die hehre
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