Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
ich einem Kummer gegenüberstand, den man mit Worten nicht lindern konnte. Als stände der Schatten meines fürchterlichen Vaters zwischen uns in dem halbdunklen, mit duftendem Zypressenholz und Lichtern gefüllten Saal.
»Sprich es aus«, sagte Kalypso dann kurz, »du fürchtest, dass er dich tötet.«
Ich hob den Kopf.
»Du kennst ihn«, sagte ich aufgebracht. »Auch dich hat Ulysses in die Arme geschlossen. Du hast ihm ein Kind geboren. Wagst du zu sagen, dass Teledapos’ Leben sicher ist?«
Sie hob die weiße Hand. Diese Handbewegung erschreckte mich wie ein plötzlich losgelassener Schrei.
»Wagst du zu sagen, dass Teledapos’ Leben sicher ist?«
»Schweig!«, gebot sie.
Ihr üppiger Busen wogte. Sie stöhnte und presste die Hand aufs Herz. Meine Worte hatten sie sichtlich verletzt. Lange Zeit war es still im Raum. Ich betrachtete sie ausgiebig – zum ersten Mal seit meiner Ankunft.
Während ich sie ansah, kamen mir die Worte in den Sinn, mit denen meine Mutter, die hehre Penelope, dieser Nymphe während der Abwesenheit meines Vaters und auch später gedachte. Diese Worte waren nicht schmeichelhaft. Meine strahlende Mutter hatte sich zwar mehr oder weniger freiwillig mit dem Gedanken abgefunden, dass ihr großartiger Mann sie betrog, wo immer auf der Welt er hinkam – denn obgleich er zu uns, seiner Familie, selten darüber sprach, waren die Tatsachen, die sich in Form von immer mehr unehelichen Kindern nach und nach in Ithaka zeigten, umso beredter. Doch bei Kalypso, dieser göttlichen Person, wurde sie fuchsteufelswild. Ihre Augen sprühten Funken, wann immer sie den Namen der Nymphe aussprach. Sie nannte sie kahl und runzlig. Sie sagte, sie habe Tränensäcke unter den Augen, am Bauch habe sie Falten wie Würste, sie trage eine Perücke und lasse ihren Busen von Zeit zu Zeit von einem Chirurgen höher nähen, um straffer zu wirken. Diese Lästerungen und Gefühlsausbrüche – die natürlichen Äußerungen eines edlen, verletzten weiblichen Herzens – hörte ich mit der Ehrfurcht eines Sohnes, aber argwöhnisch an. Im Lauf der Jahre, die ich ohne Vater und einsam an der Seite meiner gekränkten Mutter verbrachte, hatte ich gelernt, dass man die Meinungen der Frauen und Göttinnen über einander mit Vorsicht behandeln musste. Jetzt fasste ich mir jedenfalls ein Herz und besah mir gründlich die Frau, die meinen Vater sieben Jahre lang in ihrem Bett aufgenommen und über deren Aussehen sich meine Mutter oft, aber immer mit Schmähworten geäußert hatte.
Kalypso spürte, dass ich sie betrachtete. Sie richtete sich auf, lehnte sich mit einer würdevollen Bewegung auf ihrer thronartigen, schmalen Liege zurück. Mit beiden Händen strich sie das in Locken gelegte, schöne Haar zurecht. So saß sie und wartete, dass sich mein prüfender Blick mit ihrer Schönheit füllte. In diesen Augenblicken entsprach sie ganz ihrem Ruf: königlich und geheimnisvoll. Schließlich saß ich ja auch der Tochter des Atlas gegenüber. Das Gerede, dass der Himmelsträger ein Verhältnis mit dieser seiner Tochter gehabt habe, war nicht zu beweisen. Aber jetzt, als ich Kalypso Aug in Auge gegenübersaß und sie gründlicher studieren konnte, schien mir diese Möglichkeit nicht völlig unwahrscheinlich. Übrigens war in der Familie der Titanen und der höherrangigen göttlichen Wesen die Blutschande etwas ganz Alltägliches; und auch wir, die irdischen Menschen, konnten darüber das eine oder andere erzählen … Doch ich musste zugeben, dass ihre Erscheinung tatsächlich göttlich war, mehr noch, voller weiblichem Zauber – egal, was meine strahlende Mutter über Perücken und gestraffte Busen gesagt hatte. Kalypsos Alter zu bestimmen war völlig unmöglich, und es hatte auch keinen Sinn, danach zu fragen, denn einige Sternjahre hätte sie bestimmt geleugnet. Sie war groß, von majestätischer Gestalt, und die Heilnahrung, an die sie ihre tägliche Lebensführung streng angepasst hatte, sowie die mit bloßem Auge sichtbaren, erstklassigen kosmetischen Mittelchen verhalfen ihr dazu, auch in ihrem weit fortgeschrittenen Lebensalter eine starke Wirkung auf Männer zu entfalten. Es schien mir durchaus möglich, dass man meinen Vater nicht mit einem Strick hatte festbinden müssen, um ihn sieben Jahre lang in der Gesellschaft dieser Nymphe zu halten.
Aufrecht saß sie auf dem Thron, wie Istar, die Verbergerin, mit der sie die Fama verglich. Ihre roten Haare schillerten bronzefarben. Wahrscheinlich färbte sie sie, aber so
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