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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Nereide wandte sich jetzt zu ihrer Herrin um. »Pass auf, dass der Junge ordentlich zu Abend isst. Achte darauf, dass er im richtigen Verhältnis göttliche und menschliche Speisen erhält, wie es seiner Natur und seinem Rang entspricht. Und du, Kalyka«, jetzt wandte sich eine andere ältere Nereide, deren Gesichtshaut schon etwas schuppig war, von der Schwelle zurück, »bade ihn vor dem Schlafengehen. Achtet darauf, dass ihr das Meerwasser anwärmt, denn die menschliche Materie meines strahlenden Sohnes erkältet sich leicht. Gießt etwas von der Silberlösung ins Wasser, die man uns von der Insel Kos aus der Apotheke des Asklepios geschickt hat: Diese Lösung soll seine Nerven stärken. Reinigt ihm auch gründlich die Ohren und die Nägel! Wenn er schläft, werde ich nach ihm sehen«, sagte sie mit milderem Ton und schickte dem Jungen ein wehmütiges mütterliches Lächeln hinterher.
    Als die alten Wasserwesen ihren sich sträubenden und strampelnden Zögling weggeschleppt hatten, wandte sich Kalypso mit einem entschuldigenden Lächeln an mich.
    »Verzeih mir«, sagte sie freundlich, »dass ich dich mit so familiärer Vertrautheit empfangen habe. Aber ich wollte, dass du schon bei deiner Ankunft deinen Halbbruder kennenlernst. So ist er eben.« Mit einer etwas müden Bewegung hob sie die Hand in Richtung des sich Entfernenden. »Das Kind ist nervös, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass er seinen Vater kaum gekannt hat und gezwungen ist, einsam, ohne Spielkameraden in der Gesellschaft von Frauen zu leben.« Besorgt fuhr sie fort: »Mehr beunruhigt mich, dass er offensichtlich eine Neigung zum Genuss von Rauschmitteln und Weinen hat. Das ist das väterliche Erbe.« Ihr Ton war streng geworden. »Du musst wissen, mein Sohn, als dein Vater hierherkam, hat sein unbezwingbares Verlangen nach den südlichen Weinen in meinem Keller meinem Herzen viele Sorgen bereitet. Ich versuchte, ihn an den Göttertrank, den roten Nektar, zu gewöhnen, der auch berauscht, aber der Leber nicht schadet …« Wieder seufzte sie. »Aber alles war vergeblich. Ulysses hielt an den irdischen Getränken fest. Diese Neigung hat sein Sohn geerbt.« Bei diesen Erinnerungen verschleierte sich plötzlich ihr Blick. »Trinkt dein Vater immer noch?«, fragte sie dann leise und vertraulich und beugte sich vor.
    Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass mein Vater zweifellos auch jetzt noch die feurigen Weine liebe, dass er diese aber maßvoll und in solchen Mengen zu sich nehme, wie sie seiner Mannesnatur angemessen sind. Kalypso achtete besorgt auf jedes meiner Worte.
    »Das richtige Maß«, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln. »In Gesellschaft deines Vaters ist es schwer, Maß zu halten. In der Freude wie in der Trauer, in der nüchternen Schläue wie im Rausch … in allem zeichnet er sich durch etwas Grenzenloses aus.«
    Ihre Stimme klang leidenschaftlich und traurig. Mit den Fingerspitzen wählte ich unter den knusprig gebratenen Lerchen und sah Kalypso nicht an, weil ich fürchtete, sie mit meinem fragenden Blick in der Verzückung der Erinnerung zu stören.
    »Mein Vater, der erhabene Atlas«, fuhr Kalypso fort, »kommt, wenn er gerade nicht das Himmelsgewölbe auf den Schultern trägt, am Wochenende manchmal hierher, um sich zu erholen. Er sagt, dass Ulysses vom Unglück verfolgt ist, weil er seine Leidenschaften und seine Neugier nicht zügeln kann. Auch meine Großmutter, die strahlende Klymene, hat sich von ihrem hohen Wächterplatz nach unserer Beziehung erkundigt. Und mein Onkel Prometheus …«
    »Wie!«, rief ich erregt, in der Hand eine fetttriefende Lerche, »der göttliche Leberkranke ist ein Verwandter von dir?«
    »Mein Sohn«, sagte Kalypso nachsichtig, »ich sehe, du hast von deinem Vater nicht viel über die Zeit gehört, die er in meinem Haus verbrachte. Hätte er seine Familienmitglieder und Freunde in Ithaka für würdig befunden, ihnen Kunde zu geben von allem, was er in meinem Haus gelernt hat, würdest auch du die Geschichte meiner Familie genauer kennen.«
    Die Nymphe hatte recht. Mein Vater schwieg auffällig über die Jahre, die er bei ihr verbracht hatte. Er, der große Erzähler und wortgewandte Lügner, hatte die Erinnerungen und Erfahrungen, die er auf der Insel am Nabel des Meeres gesammelt hatte, immer wortkarg gehütet. Von den Kyklopen und Kirke hatte er immer gern gesprochen … Aber über Kalypso hatte er geschwiegen.
    »In Wirklichkeit ist vieles anders, als die Menschen glauben«, sagte die Nymphe

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