Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Dieb!«, rief meine Mutter erfreut.
Sie umarmten einander, wie sich das für alte Freunde gehört. Dann küsste Hermes ihr höflich die Hand. Aus dem prächtigen, mit Riemen versehenen Gürtel, den er um die Taille trug – in Wirklichkeit um den Bauch, denn aus meinem Versteck konnte ich deutlich erkennen, dass der strahlende Gast, der zuletzt vor Jahren bei uns gewesen war, inzwischen ordentlich zugenommen hatte –, nahm er eine selten schöne Blume mit roten Blütenblättern und reichte sie meiner Mutter:
»Nimm dies von mir an, göttliche Frau«, sagte der Argostöter mit scherzhafter Huldigung, »es ist eine der schönsten Blumen im Garten des Olymp. Für dich habe ich sie heute früh gebrochen, als die rosenfingrige Morgenröte Heras Gärten in Gold getaucht hat …«
Meine Mutter nahm die Blume entgegen, roch an ihr und betrachtete sie misstrauisch.
»Die hat schwarze Wurzeln«, sagte sie lächelnd, aber mit Misstrauen in der Stimme, »wie das Kraut Moly, mit dessen Kraft du mir schon einmal in mein Leben gepfuscht hast.«
»Hast du es bereut?«, fragte Hermes neugierig mit zur Seite geneigtem Kopf.
Meine Mutter seufzte und roch an der Blume.
»Ich habe es nicht bereut, aber ich erinnere mich noch gut daran, was es angerichtet hat«, sagte sie und drückte die roten Blütenblätter an den Busen. So seufzte sie geheimnisvoll und in Erinnerungen versunken. »Einmal hat sich ein Wanderer auf meine Insel verirrt. Wie so viele vor und nach ihm hatte auch er es verdient, dass ich mit meiner Zauberkraft sein wahres Wesen hinter seiner menschlichen Verkleidung aus ihm heraustreibe und ihn in ein Schwein verwandle … Aber du, mein göttlicher Freund, hast dich eingemischt. Du hast ihm Moly gegeben, und die Zauberpflanze, die schwarze Wurzeln, aber eine weiße Blüte hat, hat ihn davor bewahrt, das Schicksal seiner Gefährten zu erleiden.«
Hermes lächelte und nickte.
»Er ist Mensch geblieben, und du hast ihn in deinen Armen empfangen. Bedauerst du es?«, fragte er wieder mit dem sonderbaren, wissenden Lächeln der Älteren.
»Ich bedaure es nicht«, sagte meine Mutter kurz und ärgerlich. »Aber ich mag es trotzdem nicht, wenn du dich in meine Angelegenheiten einmischst. Ich frage dich auch nicht, warum du den Verliebten heimlich Hermesias ins Getränk mischst.«
Hermes lachte. Mit einem Arm umfasste er die erhabene Taille meiner Mutter, den Heroldsstab legte er mit leisem Klappern auf der Erde ab. So sagte er, während er meiner Mutter zuzwinkerte, spöttisch und doch freundschaftlich, wie ein Komplize:
»Ich mische es aus Honig und Milch, dann gebe ich das Öl aus den Samen der Schirmkiefer dazu«, sagte er heiter, »damit sie trunken werden und schöne Kinder bekommen … Die Welt beginnt, sich mit verdächtig gleichförmigen und hässlichen Lebewesen zu füllen. Man muss die Menschen daran gewöhnen, mit der Kraft ihrer Liebe etwas Schönes zu schaffen. Wenn es nicht anders geht, treibe ich sie mit künstlichen Mitteln zur Schönheit, sonst ist die Welt bald voller Sklaven.« Arm in Arm waren sie beim Tisch angekommen und blieben stehen. »Das Kraut Moly, meine Liebe, kann schaden und heilen zugleich. Deinen Gast hat es vor dem Zauber der Verwandlung beschützt. Aber ihr habt beide von einem gefährlicheren Rauschmittel gekostet …«
»Schweig!«, sagte meine Mutter mit geschlossenen Augen. »Ich habe so viel von ihm bekommen: die Erinnerung und ein Kind.«
»Ich weiß«, sagte Hermes freundlich und sah auf das schmerzliche, durch einen ernsthaften Zug beredte Gesicht meiner göttlichen Mutter, die mit geschlossenen Augen zurückgelehnt in seinen Armen ruhte. »Das geben die Menschen einem immer.«
Der silberne Mond erschien am violetten Himmel, und die Gegenstände, die Säulen, die Bäume und sie beide, meine Mutter und ihr Gast, verwandelten sich im Zauber des kalten Lichtes sonderbar. Ich hielt im Busch sogar den Atem an. Ich spürte, dass der Augenblick gekommen war, wo ich die Wahrheit erfahren würde. Meine Mutter schien eigenartig verstört. Jetzt lösten die beiden ihre Umarmung und setzten sich. Meine Mutter brachte die Schleier ihres Schuppenkleides in Ordnung, etwas verwirrt – wie jemand, der zugleich lacht und weint –, dann füllte sie Nektar in einen Kelch und reichte ihn dem Gast. Hermes nickte.
»Stell sie in ein Gefäß mit Wasser.« Er wies auf die rote Blume, die sich meine Mutter inzwischen an den Busen gesteckt hatte. »Achte darauf, wie sie sich verändert! Auch das
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