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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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ist keine gewöhnliche Blume. Das Volk nennt sie Hundswurz und glaubt, sie bringe dem die Gelbsucht, der einen Aufguss von ihr trinkt. In Wirklichkeit bringt sie den Schlaf. Ich verrate dir, dass ich manchmal, wenn ich im Reich des Hades zu tun habe, vor dem Abstieg Zerberus, dem bissigen Hund der Unterwelt, Pogatschen hinwerfe, die ich mit dem Sud dieser Pflanze getränkt habe. Der Höllenköter verschlingt die Pogatschen und schläft ein. Wenn du einmal jemandem das Geschenk des Schlafes machen willst, koche Hundswurz aus …«
    »Alter Zauberer«, sagte meine Mutter freundlich. »Nicht umsonst bist du auch der Gott des Schlafes und der Träume.«
    »Wie du, teure Freundin, die Göttin des Todes bist, der älteren Schwester des Schlafes«, sagte Hermes bedeutungsvoll und sah sich um.
    So tauschten sie Höflichkeiten aus. Doch der Blick des Gastes blieb an dem goldenen Käfig und dem Vogel darin hängen. Der Specht bemühte sich, mit heftigem Hämmern Hermes’ Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit seinem langen Schnabel biss er an dem goldenen Gitter herum. Der Gott sah den unruhigen Vogel über die Schulter blinzelnd an und rief in natürlichem Tonfall, als begrüße er einen alten Bekannten:
    »Picus!«
    »Du erkennst ihn?«, fragte meine Mutter mit erstickter Stimme und etwas erschrocken und presste sich die Zauberblume mit einer ängstlichen Bewegung ans Herz.
    »Picus? Wie sollte ich den nicht erkennen?«, fragte der Gott mit ehrlicher Entrüstung. »Ich bin nicht mit Blindheit geschlagen wie ein Mensch, den eine vorübergehende Maskerade in die Irre führen kann. Wir, die erstrangigen Götter, erkennen überall den Menschen, egal, in welcher Verkleidung er erscheint. Hier bist du also, alter Narr?«, sagte er ernst, spöttisch und tadelnd zu dem Specht, der den göttlichen Gast mit erschrockenen Vogelaugen blinzelnd ansah und vor Schreck sogar vergaß, mit den Flügeln zu schlagen und seinen langen Schnabel aufzusperren. »Hast du das gebraucht? Hast du das Abenteuer, diese Wahnvorstellung der Menschen, gebraucht? Als wären die Veränderung und die Verwandlung nicht genauso eintönig wie die Beständigkeit!«, sagte er ernst.
    »Die Veränderung ist eine üble Notwendigkeit für die Menschen«, sagte meine Mutter verlegen. Aber Hermes schnitt ihr das Wort ab. Er sprach zu dem Vogel, doch richtete er jedes Wort an meine Mutter.
    »Ananke!« Er zuckte mit den Schultern. »Notwendigkeit! Wann lernt ihr, dass die ewige Zeit und das unveränderliche Schicksal ein und dasselbe ist?« Der Specht hämmerte verzweifelt. »Jetzt jammerst du, alter Lustknabe?«, fragte Hermes ernst, aber nicht ohne jede Anteilnahme. »Wie so viele deiner Vorgänger hast auch du das Abenteuer gesucht, König von Italia, Mann der braven Pomona, die vergeblich zu den Göttern um deine Rückkehr gefleht hat! Ich erkenne dich und sehe auch in deinem verzerrten Vogelherzen das menschliche Überbleibsel: die feige Reue und die eitle Hoffnung!«
    Er wandte sich von dem Vogel ab. Das Licht seiner göttlichen Augen fiel mit einem heftig drohenden Strahl auf meine Mutter.
    »Ich lasse auftragen«, sagte sie unruhig und griff hastig nach der Klingel. Aber Hermes hielt mit einer plötzlichen Bewegung die schöne, fliehende Hand fest.
    »Warte noch!«, sagte er ernst. »Ich habe mit dir zu reden.«
    Seine Worte klangen majestätisch. Der Vogel im goldenen Käfig, meine Mutter in ihrem Feenkleid und ich selbst im Busch hörten mit offenem Mund und bebendem Herzen auf die Worte unseres Gastes. In der Dämmerung glaubte ich das Wehen eines Schattens zu sehen: als ob der Dämon des persönlichen Schicksals sich mit schleichenden Schritten aus der Tiefe des Gartens uns näherte, jetzt, da der Gott ernst zu reden begann.
    VII
    »Liebe Freundin«, Hermes’ Stimme klang heiser, »es gibt gewisse Dinge, die so nicht weitergehen können. Ich bin Herold, und meine Aufträge sind nicht immer angenehm, besonders, wenn ich einen strengen höheren Befehl überbringen muss. Ich muss dir sagen, dass man auf dem Olymp von deinen dunklen Praktiken genug hat. Wir können es nicht dulden, dass du dich auf Schritt und Tritt in die Weltenordnung einmischst und die nach dem heiligen Gesetz der Entelecheia geschaffenen Wesen verwandelst. Du hast zu oft deine Liebhaber in Schweine, deine Verehrer in Rohrwölfe und heulende Löwen und deine ungetreuen Liebhaber in Vögel und Meerungeheuer verzaubert. Es reicht!«, sagte Hermes streng.
    Meine Mutter saß würdevoll und starr

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