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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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die Menschen sich auf der Erde in einem gewissen Sinn selbstständig gemacht haben. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Meine teure Freundin«, sagte er leise und seufzte, »wir Götter herrschen nicht mehr uneingeschränkt in der Welt. Die Menschen …«
    »Diese halben Tiere«, sagte meine Mutter störrisch voller Hass.
    »Und halben Götter«, sagte Hermes spöttisch. Dann zuckte er mit den Schultern und hob warnend die Hand. »Meine Liebe, diesen Gemeinplatz sagen die Götter und Göttinnen zu ihrem eigenen Trost her, seit dem Augenblick, in dem sie leichtfertigerweise den Menschen erschaffen haben. Er ist kein Tier, und er ist kein Gott. Er ist Mensch und fordert einen Teil von der Herrschaft über die Welt. Ulysses ist nur einer von den heimtückischen Thronbewerbern. Sein Schicksal wird sich zwar irgendwann erfüllen. Aber solange er lebt, hat er die Kraft, die Grenzen seiner Persönlichkeit zu überschreiten. Das müssen wir so hinnehmen«, sagte der Gott ernst.
    Es dämmerte. Mit violetten Schleiern fiel der Abend herab, und der Himmel über Aiaia erstrahlte vom Funkeln der goldenen Sterne. Es war, als erfüllte der schwüle Duft der sich paarenden, verliebten Zypressen die Nachtluft. Ich schwitzte im Busch und atmete schwer, weil ich mich in meiner hockenden Stellung nicht zu rühren wagte.
    Meine Mutter saß mit verschränkten Armen würdevoll da. Auf ihrem schönen, gepflegten Gesicht irrten die Schäfchenwolken der Sorge und des Nachdenkens umher.
    »Du verbietest mir, sie zu verwandeln«, sagte sie bitter voller Klage. »Du vergisst wohl, dass die Menschen selbst mich zur Vorsicht zwingen. Es gab eine Zeit, in der ich in meinem Labor glücklich gepanscht habe, weil ich das Gefühl hatte, etwas zum großen Werk der unendlichen Variationen der Schöpfung beizutragen. Die männlichen Götter können nur zeugen. Die undankbare Aufgabe, das Kind auszutragen und zu erziehen, blieb immer an uns weiblichen göttlichen Wesen hängen. Wir sind die Mütter.« Sie sprach sanft und dennoch ärgerlich. »Aber eines Tages erschien auf meiner Insel der Mensch, und ich lernte die Enttäuschung kennen.«
    Ihre Stimme hallte jetzt ungestüm in den Abend hinein. Hermes hörte meiner Mutter aufmerksam, mit vorgebeugtem Oberkörper, zu.
    »Ich weiß«, sagte er leise voller Mitgefühl. »Ulysses hat dich betrogen. Deswegen kannst du jedoch nicht das ganze menschliche Geschlecht in den Schweinestall sperren wollen.«
    »Dank dir und der eifersüchtigen alten Pallas Athene«, rief meine Mutter aufgebracht, »ist dieser Mensch meinem Zauber entkommen. Er war es, der mich betört hat. Mit seinen Lügen, seinem Wesen, seinem Körper und seiner Seele hat er mich verzaubert. Ich habe sein Wesen eingeatmet wie die Priesterinnen in Delphi den betörenden Dunst, der dort der Erde entströmt. Ja, ich war berauscht. Mein starkes Herz ist weich geworden. Ich nahm den Herumtreiber in meinen Armen auf. Und später in meinem Schoß. Ich habe mir seine Geschichten angehört und geglaubt, ihn allmählich zu kennen. Er erzählte von Kämpfen, er erzählte von Männern – von Männern, die Diebe und Könige zugleich waren, Opferlämmer und Helden … Er erzählte von Frauen, die ihr Blut nicht beherrschen können und um deren Besitz die Männer unsinnige Kämpfe beginnen. Er erzählte von Ithaka, wo seine Gattin und sein Kind auf ihn warteten, er erzählte vom Rauch des heimischen Herdes, den er noch einmal sehen wollte. Die Nächte vergingen und die Jahreszeiten. Der Gast hat mein Herz betört. Ich hatte Erbarmen mit seinen Gefährten und gab diesen Elenden die menschliche Gestalt zurück. Ich duldete es, dass sie ein Jahr lang auf meiner Insel gefressen und gesoffen haben … Ich muss sagen, auch auf zwei Beinen haben sie sich nicht übermäßig menschlich benommen. Sie stürzten sich auf die Getränke wie eine Schweineherde auf den Eicheltrog, und als der eine, ein Jüngling namens Elpenor, betrunken vom Hausdach fiel und tot war, hatte ich das Gefühl, die göttliche Rechtsprechung ist manchmal milder als das Schicksal, das die Menschen einander bereiten. Wir begruben ihn dort.« Sie zeigte mit der wunderschönen Hand hinter die Zypressen zu dem Hügel am Ufer, in dem eine rostige Lanze steckte als Zeichen, dass unter ihr im Erdreich menschliche Gebeine vermodern.
    »Sie waren Menschen«, sagte Hermes und zuckte mit den Schultern, »also tranken sie, weil sie ihr Dasein nicht ertragen konnten. Sie brauchten den Rausch, um sich von

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