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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Insel. Er ist also auch in dienstlicher Eigenschaft unterwegs«, sagte sie nervös. »Sorgt deshalb doppelt dafür, dass wir das Wohlgefallen dieses hohen Gastes finden! Hermes ist ein Süßmaul, er liebt das Gebäck. Die Menschen backen ihm zu Ehren süße Kuchen, die geformt sind wie der Heroldsstab, mit dem sich der geflügelte Bote immer auf den Weg macht … Ilythia, sag unserem Konditor Bescheid, er soll auf dem heißen Stein ein paar dieser stabförmigen Teigstücke backen! Nehmt außerdem unser schönstes in Zucker eingelegtes Obst aus den Töpfen und serviert die süßen Früchte in silbernen Schalen. Ich will, dass alles so ist wie in den alten Zeiten, wenn er manchmal herkam«, sagte meine Mutter und seufzte.
    Die Nymphen machten sich mit untertänigem Raunen und Rascheln daran, die Befehle auszuführen. Bald war unser Haus erfüllt von den Geräuschen kratzender Besen, schlagender Mörser und dem Brutzeln des Öls in den Kochtöpfen. Meine Mutter gab mir noch eine Ermahnung mit auf den Weg:
    »Telegonos«, sagte sie streng, »pass auf, hehrer Sohn! Du bist kein Kind mehr!« Ich errötete, weil mir der Augenblick einfiel, in dem sie mich mit meiner unglücklichen Geliebten im Bett gefunden hatte. »Aber du bist auch noch nicht erwachsen, weder im göttlichen noch im menschlichen Sinn des Wortes. Jedenfalls ist der Zeitpunkt gekommen, in dem wir uns ernsthaft mit deiner Zukunft befassen müssen. Was du bisher gelernt hast, waren schöne und kluge Lektionen, doch sie reichen nicht aus. Der Augenblick naht, wo ich mich von dir trennen muss. Du gehst in die Welt hinaus, um neues Wissen zu sammeln«, sagte sie ernst.
    »Sag mir die Wahrheit!«, bat ich sie. »Was ist die Welt? Wer bin ich? Was willst du von mir?«
    Meine Mutter schwieg und maß mich mit scharfem Blick.
    Ich stampfte vor Ungeduld.
    »Wer war Ulysses?«, rief ich.
    Das Wort war erklungen. Ich weiß nicht, welcher Dämon mich gezwungen hatte, es auszusprechen. Meine Mutter saß starr da und sah mich mit stechenden Augen an. Ihr strahlend weißer Busen wogte wie der schneebedeckte Berg auf der nahen Insel Thrinakia, wo Typhon die feurigen Hügel durchwühlen.
    »Es kommt die Zeit«, sagte sie streng, »in der du erfährst, wer Ulysses war! Junge, du solltest diesen Augenblick nicht herbeiwünschen!«
    In ihrer Stimme lag etwas Drohendes, aber zugleich auch eine tiefe Traurigkeit. Ergriffen schwieg ich. In diesem Moment wagte ich nicht, sie mit weiteren Fragen zu belästigen. Doch ich spürte, dass die Zeit gekommen war, in der sich der Schleier über dem großen Geheimnis meiner Kindheit heben und sich mein Weltbild verändern würde. Ein fremder Name – und doch: wie sonderbar anziehend und bekannt er klang! – war gefallen, und meine Erschütterung war der beste Beweis, dass ich dem Geheimnis auf der Spur war. Vorerst wusste ich nichts Genaues, ich spürte nur, dass, seit dieser Name erklungen war, auch ich zur Persönlichkeit geworden war. Diese Ahnung erregte mich. Ich hatte den Verdacht, dass eine Persönlichkeit zu sein das Größte ist, wozu ein Mensch überhaupt fähig ist.
    VI
    Hermes wurde am Nachmittag erwartet. Wir schrieben den vierten Tag des Monats, also – wie ich von meiner strahlenden Mutter und den eingeweihten Nymphen wusste – den Tag vor dem Tag, der uns an die Geburt des herumstreifenden Gottes erinnert und den die Menschen immer mit Opfern ehren. Der Himmel hatte sich schon mit violetten und dunkelblauen Schleiern verdunkelt, als wir vom Gartentor her das Klirren der goldenen Sporen unseres göttlichen Gastes hörten.
    Der Sommerabend war schwül, kein Lüftchen regte sich. Meine Mutter hatte in der Säulenvorhalle decken lassen. Ein bronzener Springbrunnen, der einen Jungen beim Fischfang darstellte – ein Geschenk des Glaukos, das er meiner Mutter vor einigen Jahren geschickt hatte –, ließ sein silbrig sich kräuselndes Wasser plätschern. Er stand in der Mitte eines von Zypressen umringten und von einer Marmormauer begrenzten Rasens, der mit herrlich duftenden Blumen bepflanzt war. Den niedrigen Marmortisch und die Liegen mit den Purpurkissen hatte man zwischen zwei hohen Zypressen aufgestellt, mit Aussicht auf die silbrig glänzende Bucht. Um diese beiden Zypressen – mein Großvater, der strahlende Helios, hatte sie gepflanzt – rankte sich auf den Inseln eine Sage: Man erzählte sich, dass die eine Zypresse eine männliche und die andere eine weibliche Pflanze sei. Die Nymphen meinten zu wissen, dass,

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