Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
während die kerzengeraden Stämme der männlichen und der weiblichen Zypresse starr und reglos in die Höhe ragten, ihre sich windenden Wurzeln in der Tiefe miteinander verflochten waren; dass sie dort unten in den Schlupfwinkeln der weichen Erde eine unsichtbare und dennoch leidenschaftliche Ehe eingingen. Meine Mutter schwieg zwar mit geheimnisvollem Lächeln, wenn die Nymphen oder die Gärtner-Silene Anspielungen auf das Liebesleben des zweigeschlechtlichen Zypressenpaars machten, leugnete die Möglichkeit dieser besonderen Beziehung indes nicht.
    »Ihr werdet die Wahrheit erfahren«, sagte sie ernst und geheimnisvoll auf unsere Fragen, »wenn eine tödliche Krankheit die eine befällt: ein Blitzschlag, ein Erdbeben oder ein Windsturm, der die Stämme bricht …«
    »Was wird dann geschehen?«, fragte staunend die einfältige Ilythia.
    »Wenn die andere hinterherstirbt«, sagte meine Mutter kurz und bitter, »dann waren sie wirklich ein Liebespaar.«
    »Herrin«, fragte mit zitternden Lippen die gutherzige und vom Scheitel bis zur Sohle empfindsame Küchennymphe, »gibt es keinen anderen Beweis für die Liebe?«
    »Nur den Tod«, sagte meine Mutter hart und verzog bitter den schönen Mund. »Alles andere ist Prostitution oder Spiel. Die Liebe ist, wenn sie echt ist, immer tödlich. Merke dir das, du Gans!« Verächtlich sah sie sie an.
    Es war unmöglich, nicht an diese Worte zu denken, als ich mich am Abend in der Nähe meiner Mutter herumdrückte und zusah, wie sie auf dem Tisch zwischen dem im Zauberruf stehenden Zypressenpaar die Vorbereitungen zum Eindecken und Servieren kontrollierte. Um ihre Taille hing die aus Schlangenhaut geflochtene Peitsche, die sie anstelle eines Zauberstabes benutzte. Meine Mutter hatte für den Abend ein prächtiges, aus schuppiger Fischhaut genähtes, membranartiges Kleid angezogen, und dieses Gewand glitzerte im Mondlicht an ihrer fülligen, doch wohlproportionierten Gestalt wie der phosphoreszierende Körper eines Tiefseefischs. Ihr berühmtes, schönes Haar hatte ihre geschickte Kammerzofe, die gedrungene Doro, an diesem Nachmittag mit besonderer Sorge in kunstvolle Locken gelegt. Einen goldenen Vogelkäfig, in dem sie einen Specht hielt, ließ sie aus dem Schlafgemach bringen und auf den Tisch stellen. Meine Mutter war offensichtlich befangen und voller Erwartung. Ich schluckte schwer, als ich ihr schauriges und zugleich bezauberndes Wesen betrachtete; ich begriff, dass meine Mutter nicht nur eine Zaubergöttin war, sondern auch eine Frau. Als sie mich an einer Säule erblickte, rief sie mir nervös zu:
    »Scher dich in deine Gemächer, göttlicher Bengel!« Ihre Stimme klang drohend. »Ich will den Abend mit dem erhabenen Gast allein verbringen.«
    Mit vorgetäuschtem Gehorsam verabschiedete ich mich. Meine Mutter beachtete mich nicht mehr, weil die Kiesel des Gartenweges leise knirschten, als der nahende Gast mit seinen Flügelsandalen auf sie trat. Ich tat, als ginge ich zum Wohnhaus, aber kaum hatte mir meine Mutter den Rücken gekehrt, versteckte ich mich in einem rundgeschorenen, immergrünen Busch von der Größe eines kleineren Kohleofens, der zusammen mit anderen seiner Art die Säulenvorhalle säumte. Von dort konnte ich in der Stille des Sommerabends jedes Wort, das von meiner Mutter und dem Gast am Tisch gesprochen wurde, hervorragend hören und hatte, wenn ich mich vorsah, auch die Möglichkeit, die Sprechenden zu sehen. Diesen Platz hatte ich schon im Lauf des Tages ausgespäht, denn ich war fest entschlossen, dieses eine Mal die Befehle meiner Mutter zu missachten und mich nicht aus den Geheimnissen von Himmel und Erde ausschließen zu lassen.
    Hermes schritt mit seinem Heroldsstab in der Hand langsam den Gartenweg entlang. Er war groß und schon etwas grauhaarig, ein Gott von vornehmer Erscheinung. Er trug ein kurzes Mäntelchen, so eine Art windgefütterten Umhang mit Goldbesatz, und einen mit roten Mustern gewirkten schneeweißen Tuchrock, der seine muskulösen Beine nur oberhalb der Knie bedeckte. Die mit zwei kleinen goldenen Flügeln geschmückte Kopfbedeckung, die seinen göttlichen Rang und sein Aufgabengebiet symbolisierte, hatte er vom Kopf genommen und hielt sie in der Hand, denn der Abend war schwül, und der Gott war auf dem Weg ins Schwitzen geraten. Meine Mutter erwartete ihn an einer Säule mit ausgebreiteten Armen.
    »Liebe Freundin!«, sagte der Gott mit einem wohlwollenden Lächeln weltläufig. Auch er breitete die Arme aus.
    »Göttlicher

Weitere Kostenlose Bücher