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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Bewegungen ihn verzaubert hatte - und diese Erkenntnis rührte sie so, dass sie sich die Tränen abtupfen musste.
    Am Abend der Hochzeit zog sie sich zurück, badete, kleidete sich an und machte sich mit einer präzisen Sorgfalt zurecht, die sie durch diese ganze Prozedur trug, als wiederholte sie ihren Katechismus. Nein, sie brauchte weder die Hilfe des Mädchens noch ihre Pravaz. Sie war ruhig und entschlossen, sie ging ganz und gar im Augenblick auf. Auf ihren Lippen war das Gedicht, das sie für ihn auswendig gelernt hatte, in der besten Übersetzung, die sie zustande gebracht hatte. Es hatte auf der Schriftrolle gestanden, die in ihrem Zimmer in der grünen Festung der Hügel über der Ebene von Kantö gehangen hatte, als er gekommen war, um sie zu holen. Es stammte von einer Frau, die vor tausend Jahren am Hof der Kaiserin gelebt hatte, in einer Zeit, in der man sich sinnlichen Genüssen gewidmet hatte, der Schönheit, der Poesie, der Kunst und der Liebe, und sie würde es ihm dort schenken, in der Kälte der Nacht, wenn über ihnen die Sterne funkelten, der Richter seine uralten, überlieferten Sätze sprach und der Ring auf ihren Finger glitt.
    Sie sagte es ein letztes Mal laut auf und genoss den Rhythmus und die schmerzliche Süße des Gefühls, von dem es sprach. »>Erinnerungen an eine lange Liebe / Türmen sich auf wie Schneewehen««, murmelte sie und betrachtete sich im Spiegel - noch immer schön, noch immer unverdorben, noch immer imstande, die höchsten Höhen der Liebe und der Erfüllung zu erreichen -, und dann senkte sie die Stimme zu einem Flüstern: »>Bewegend wie die Mandarinenten, / Die schlafend nebeneinander dahintreiben.<«
    Sie blickte kurz in ihre Augen, blickte so tief in sich hinein, wie sie es wagte, und ging hinaus, um ihn zu heiraten.

Dritter Teil
MAMAH

EINFÜHRUNG ZUM DRITTEN TEIL
    Wrieto-San mochte weiche Bleistifte. In seiner väterlichen - manche würden sagen, tyrannischen - Art verbannte er harte Bleistifte aus dem Zeichenraum, doch wegen der Klarheit und Entschiedenheit ihres Strichs zogen viele von uns die harten Minen vor, insbesondere Herbert Mohl. Wie wir alle reagierte Herbert empfindlich auf Kritik, doch er war schon länger in Taliesin als jeder andere von uns, und wir hörten auf ihn, so dass es eine Phase gab, in der einige begannen, entgegen Wrieto-Sans Diktat mit Bleistiften der Härte 4H zu zeichnen. (Wrieto-San bervorzugte weiche Bleistifte übrigens deshalb, weil ihre Linien leichter auszuradieren waren, denn während er zeichnete, nachdachte, revidierte und wieder zeichnete und revidierte, war er ständig damit beschäftigt zu radieren - »Der Radiergummi ist das wichtigste Utensil beim Zeichnen«, pflegte er zu sagen - es war eines seiner Mantras.) Eines frühen Nachmittags - es war kalt, der Winter verschleierte die Fenster, und nach dem Mittagessen lag eine gewisse Lethargie über dem Zeichenraum - kam er plötzlich aus seinem Büro zu uns hereinspaziert, so wie er es zwanzigmal am Tag tat, und wir erhoben uns alle in Ehrerbietung. »Großer Gott, hier kommt man sich ja vor wie im Kühlhaus!« rief er. »Kann denn keiner von Ihnen das Feuer in Gang halten?«
    Wir schauten alle zum Kamin. Dort prasselte ein ordentliches Feuer - auf einem dichten Glutbett waren drei Lagen Holz übereinandergeschichtet, an denen die Flammen emporloderten, und vor weniger als fünf Minuten hatte Wes sogar noch ein Scheit nachgelegt -, doch natürlich zählte allein die Wahrnehmung des Meisters. Ich verließ gehorsam meinen Zeichentisch, beugte mich mit dem Schürhaken zum Feuer hinunter, um die Scheite zurechtzurücken, und legte ein weiteres, sauber gespaltenes Stück Holz auf. »Ah-ha!« hörte ich hinter mir Wrieto-San rufen, während mir die verschwenderische Hitze Gesicht und Hände versengte. »Harte Bleistifte! Sie, Herbert, Sie haben sich schuldig gemacht, stimmt’s? Und Sie auch, Marian. Und Wes - doch nicht auch Sie, Wes! Sagen Sie mir, dass ich mich täusche!«
    Er scherzte natürlich - man hörte seiner fröhlichen Stimme an, dass er bester Laune war -, doch es gab da eine tückische Unterströmung. Als ich mich umdrehte (ich selbst verwendete übrigens ausschließlich weiche Bleistifte, sowohl aus persönlicher Neigung wie auch aus Hochachtung vor dem Meister), war er bereits wie ein Kobold - oder was immer dessen walisische Entsprechung sein mochte - im Zeichenraum herumgeflitzt, hatte sämtliche harten Bleistifte, die er finden konnte, an sich genommen und warf

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