Die Frauen
sie nun in die Flammen. Dann sprang er auf einen Hocker und breitete die Arme aus. »Ich habe in letzter Sekunde die Niederlage abgewendet!« rief er (normalerweise war dies der Spruch, mit dem er Änderungen an unseren Zeichnungen vornahm), und alle bis auf Herbert lachten laut auf.
Ich erzähle diese Geschichte, weil sie illustriert, wie sehr wir unter Wrieto-Sans Einfluss standen, ob wir nun gegen ihn rebellierten, um uns in unserer Individualität abzugrenzen, oder auch nicht. Herbert benutzte weiterhin heimlich harte Bleistifte, so wie ich weiterhin weiche benutzte - was ich heute noch tue -, aber der Witz ist, dass wir jedesmal, wenn wir einen Bleistift aufs Papier setzten, Wrieto-San im Hinterkopf hatten. Und wie ich schon angedeutet habe, bestimmte er eben nicht nur in architektonischen Dingen über uns, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen, von der Ernährung über unsere Kleidung und die Autos, die wir fuhren, bis hin zu der Frage, mit wem wir uns liierten oder verehelichten.
In letzterem Punkt habe ich seinen Wünschen wohl tatsächlich zuwidergehandelt, aber ich bin bis heute der Ansicht, dass das berechtigt war - es gab keinen Grund, mich wie ein kleines Kind zu behandeln, und dasselbe galt für Daisy. Wenn wir in Liebe und Zuneigung und auf der Basis gemeinsamer Interessen, Vorlieben und Sichtweisen zusammengefunden hatten, war das ganz allein unsere Sache. Zumindest glaubte ich das. Bis Wrieto-San und Mrs. Wright, die gleichermaßen daran beteiligt war, mich eines Besseren belehrten.
Ich hatte es natürlich geahnt, schon an dem Tag nach Daisys Ankunft, als mich beide Wrights herunterputzten, aber als dann das Aus kam, war ich dennoch unvorbereitet. Oder nein (warum bloß muss ich selbst aus dieser großen zeitlichen Distanz noch so lächerlich korrekt sein?) - ich war fassungslos. Todunglücklich. Tief getroffen, weil das Ganze so dreist und heimtückisch über die Bühne gebracht worden war. Allerdings glaube ich, dass es etwas anders abgelaufen wäre - oder vielleicht auch gar nicht -, wenn die beiden damals nicht übersensibilisiert gewesen wären, weil Svetlana mit Wes durchgebrannt war.
Von uns Schülern - die wir uns jeder auf seine eigene Weise lieb Kind zu machen versuchten, selbst Herbert, der doch der beste Zeichner unter uns war - war eindeutig Wes der Gesalbte. Wenn irgendeine Arbeit anstand, war er sofort zur Stelle, stets der erste, der die Bedürfnisse, Wünsche und Launen des Meisters erkannte (das war ein regelrechtes Kunststück - wir mussten ständig wachsam sein, und wenn wir bemerkten, dass Wrieto-San zum Beispiel in Richtung Stall oder Gemüsegarten schlenderte, mussten wir vor ihm dort sein und bereits wissen, was er dort erledigt haben wollte). Und wenn Wrieto-San jemanden für eine besondere Aufgabe brauchte, zur Beratung oder auch einfach nur zur Gesellschaft, rief er fast immer Wes’ Namen.
Es schmerzt mich, das zu sagen, aber Wes war wie ein Sohn für ihn, mehr als seine leiblichen Söhne, und die Zuneigung, die er für ihn empfand, war so deutlich wie seine Körpersprache, das jähe Aufleuchten seiner Augen, wenn Wes den Raum betrat. Es schmerzt mich, das zu sagen, weil ich mit Herz und Seele dieser Sohn sein wollte - wir alle wollten es.
Svet und Wes waren von Beginn an eng verbunden, fast wie Bruder und Schwester, doch sie waren alles andere als das. Wes kam mit Anfang Zwanzig nach Taliesin, das erste Mitglied der Fellowship (sieht man einmal von Herbert Mohl ab, der als angestellter Zeichner begonnen hatte und über die mageren Jahre der Weltwirtschaftskrise geblieben war, nun ohne Gehalt, so wie wir), und Svet war damals knapp sechzehn. Sie war mit einer ausgeprägten Liebe zur Natur aufgewachsen und nahm voll und ganz am Leben von Taliesin teil, versah ihren Dienst in Küche, Stall und auf dem Feld wie wir alle. Sie lernte schon früh fahren, sowohl die Automobile als auch den Traktor, vor allem aber war sie eine ausgezeichnete Reiterin. Sie war musikalisch und, wie schon erwähnt, hübsch, hatte meistens Jeans und eine schlichte Bluse an und trug das Haar in Zöpfen, und auch die mondänste junge Dame aus Chicago oder New York hätte nicht bezaubernder aussehen können. Wes verliebte sich in sie, so wie ich mich in Daisy verliebte. Wer hätte es ihm verdenken können?
Ich weiß nicht, wie Wrieto-San davon erfuhr. Er sah die Welt nur durch den Schleier seiner Genialität - ich möchte hier nicht von Solipsismus, Privilegien oder droit du roi sprechen
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