Die Frauen
ihre erwartungsvoll aufgerissenen Augen und leicht geöffneten Lippen waren einfach hinreißend. Wir waren in Chicago. Wir waren frei. Der ganze Nachmittag und Abend lag vor uns, und danach noch einmal zwei Tage. Irgendwie kam ich auf die Idee, dass wir am Schauplatz des Massakers vom St. Valentine’s Day vorbeifahren sollten, der im Norden lag, in der Gegend von Lincoln Park, und in diesem Moment hatte ich Wrieto-San wirklich völlig vergessen. Im hintersten Winkel meines Bewusstseins, tief in meinem Innern, wusste ich, dass er irgendwo da draußen in dem Durcheinander aus Fußgängern, Autos, hoch aufragenden Gebäuden und von Licht und Schatten gestreiften Boulevards sein musste, bestimmt war er gerade im Congress Hotel oder stattete dem Robie House einen Überraschungsbesuch ab, oder er schnappte auf der Michigan Avenue ein bisschen frische Luft, aber ich beließ dieses Wissen, wo es war. In der schwebenden Süße des warmen Spätnachmittags stiegen wir in den ziegelroten Bearcat und ließen den Wind über uns hinwegstreichen, während ich mich durch das Verkehrsgetümmel kämpfte und mein Bestes tat, um das Gehupe und die gelegentlichen erstaunten Blicke des einen oder anderen Autofahrers zu ignorieren.
Das Verdeck war offen. Natürlich war es offen. Es war Sommer. In Chicago. Und wir waren mittendrin.
Ich war, wie gesagt, kein sonderlich guter Autofahrer, hatte zwar auf den Landstraßen von Wisconsin an Selbstvertrauen gewonnen, doch den Großstadtverkehr zu bewältigen war etwas völlig anderes. Wir verfuhren uns fast unmittelbar - letzten Endes fanden wir weder die Autowerkstatt, wo das Massaker stattgefunden hatte, noch eine Kneipe mit Einschusslöchern in der Wand, aber es gelang uns immerhin, ein paar Bier in einer Bar mit Grill zu trinken, die so düster und schmutzstarrend war, dass sie durchaus das Original hätte sein können. An der Wand hinter unserem Tisch hatte irgendeine klebrige Substanz mittlerweile verblasste Flecken hinterlassen, die Daisy, während sie sich nonchalant eine Zigarette anzündete, als Blutflecken identifizierte, wobei sie tatsächlich wohl eher von Ketchup herrührten. Oder, der Kundschaft entsprechend, von Marinarasoße. Wir bestellten uns Sandwiches, hörten Musik aus der Jukebox, fassten uns nicht an. Trotzdem kam irgendwann - ich glaube, wir tranken gerade unser drittes Bier - einer der Gäste, der an der Theke gestanden und sich mit seinen Kumpel in lebhaftem Italienisch unterhalten hatte, an unseren Tisch getorkelt und bezichtigte mich, ein Chinese zu sein, was ich entschieden abstritt. Mir gefiel sein Gesicht nicht. Und mir gefielen seine Augen nicht. Es hätte sehr schnell zu Gewalttätigkeiten kommen können, wenn Daisy mich nicht am Arm gepackt und auf die Straße hinausgezerrt hätte, als wäre ich ein schlaffer Fisch, der an ihrer straff gespannten Angelschnur hing.
Na ja, das Bier war meinem Orientierungssinn jedenfalls nicht zuträglich, ebensowenig wie meiner Koordination im Umgang mit Schaltknüppel, Kupplung und Steuer, dem wesentlichen Handwerkszeug des Autolenkers, und so verfuhren wir uns auch auf dem Rückweg. Es gelang mir immerhin, den Lake Shore Drive ausfindig zu machen, und dort entdeckte ich eine Straße, die in westlicher Richtung abzweigte und mir vage bekannt vorkam, auch wenn Daisy behauptete, sie noch nie gesehen zu haben. In diesem Moment - wir stritten nicht etwa, doch waren wir, glaube ich, beide frustriert von all den Umwegen, der endlosen Sucherei, dem Geruckel und Gezuckel, und wollten nur noch zurück ins Hotel - entdeckte ich Wrieto-San. Wir steckten in einer Autoschlange vor einer Ampel fest, inmitten eines Infernos von Abgasen, in den Seitenstraßen verdichtete der nahende Abend die Schatten, und er stolzierte auf der anderen Straßenseite in seiner üblichen Art einher, wirbelte seinen Stock herum und plauderte mit Mrs. Wright und einem gebeugt gehenden Mann im grauen Anzug, der einen halben Schritt hinter ihnen herging. Dann sah auch Daisy ihn. Sie stieß einen Protestschrei aus - eigentlich war es eher eine Art Quieken-, zog den Kopf ein, duckte sich hinters Armaturenbrett und drückte Schultern und Knie so fest zusammen, dass ich befürchtete, sie werde durch den Autoboden in den Asphalt sinken.Ich hielt mich stocksteif, als könnte ich mich durch völliges Erstarren in Raum und Zeit unsichtbar oder zumindest unauffällig machen - immerhin wurde es ja gerade dunkel, und überall waren Autos und Menschen, die Deckung boten -, aber
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