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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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warum sollte die Regierung darüber bestimmen dürfen, was man mit seinem eigenen Körper, seinem Geist, seinen Bedürfnissen, Wünschen und Zwängen anstellte? Wollten sie auch noch die Bedürfnisse regulieren? Sie rationieren? Sie besteuern? Miriam* war so zornig, so flammend empört, dass sie den Fahrer wohl etwas zu streng behandelte - den Taxifahrer mit seiner zurückgeschobenen Mütze und der Andeutung eines Menjoubärtchens -, denn als sie die Grenze in Tijuana erreichten, hielt er an, drehte sich auf dem Fahrersitz um und forderte den vollen Betrag. In unverschämtem Ton. Mit unverschämtem Blick aus seinen kleinen Schweinsäuglein. »Weiter fahre ich nicht«, sagte er mit einem Akzent, den sie nicht einordnen konnte.
     
    * Maude Miriam Noel, 1869-1930, Südstaatenschönheit, Bildhauerin, Kunstliebhaberin. Wrieto-Sans zweite Frau. Ich habe sie nie persönlich kennengelernt, aber Billy Weston hat sie mir recht ausführlich beschrieben. »Die hat immer Ärger gemacht«, sagte er. Und dann benutzte er eine jener besonders bildhaften amerikanischen Wendungen - eine wahre Schatzgrube, die amerikanische Sprache: »Sie war«, und nun hielt er einen Augenblick inne und starrte in die Ferne, als würde sein Gehirn, das Organ an sich, von der Quetschkommode seiner Erinnerung mit aller Macht zusammengepresst, »eine wahre Landplage.«
     
    Sie war ungerührt. Spürte, wie sich ihre Miene verhärtete, wie die Poren sich verschlossen und die Muskeln um Mund und Augen versteinerten. »Blödsinn«, fauchte sie. »Fahren Sie weiter.«
    Links vom Wagen stand ein Zöllner, ein Schwachsinniger mit Schielauge, hängenden Schultern und schlechten Zähnen, der ihnen bereits sein Lächeln gezeigt und sie durchgewinkt hatte - keine Durchsuchungen hier, kein Pass erforderlich -, doch nun schaute er sie neugierig an. Als hätte er in seinem Leben schon alles gesehen, jegliche Art von Aufruhr und Unentschlossenheit, Frauen im vierten oder fünften Monat auf dem Weg zu la clínica für die Prodezur, die sie wieder in Ordnung bringen würde, Rumschmuggler mit leerem Lieferwagen, Tagesausflügler, Ethnologen und Steinesammler, als wäre das hier aber eine ganz neue Variante.
    »Nein«, sagte er, »das war’s«, und dann schob er sich aus dem Auto und versuchte, die hintere Tür zu öffnen, doch Miriam hielt den Griff fest. »Steigen Sie aus«, verlangte er, und mit einer gewissen Freude hörte sie das Zittern in seiner Stimme. Die Schlacht war bereits gewonnen.
    »Ich denke gar nicht daran«, sagte sie, nur um das Gefühl dieser Worte auf ihren Lippen auszukosten. »Ich habe Sie dafür bezahlt, dass Sie mich nach Tijuana bringen, und ich werde mich nicht vom Fleck rühren, bis Sie Ihren Teil der Abmachung erfüllt haben.« In ihrer wachsenden Empörung sah sie sich um: der Zöllner, ein Strom von Mexikanern in weiten Hosen und bunten Umhängen, Maultiere, Hunde, indianische Augen, indianisches Haar, Staub, Mist, Dreck, die Straßenverkäufer und Bettler in ihren kläglichen Lumpen - und über alldem die Hitze, diese unglaubliche, mörderische Hitze, die den Verwesungsgeruch aufkochte, so dass sie kaum noch Luft bekam. »Fahren Sie weiter«, befahl sie.
    Er sah ihren Blick, sah ihre versteinerte Miene, und versuchte gar nicht erst, ihr einen Vierteldollar extra abzuhandeln, so wie alle anderen es getan hätten - er zuckte nur mit den Achseln, stieg wieder in den Wagen und legte den Gang ein. Im nächsten Moment schlingerten sie über die ausgefahrenen Straßen, und vor dem Fenster entfaltete sich das Panoptikum der mexikanischen Armut wie ein gefilmtesWandgemälde. Sie fühlte sich unwohl, spürte die Hitze, war benommen von dem Gestank - sie hatte ihre Unterwäsche und die Sitzfläche ihres Kleides durchgeschwitzt, und ihre Haare klebten unter dem papageiengrünen seidenen Turban, den sie bewusst ausgewählt hatte, um die Farbe ihrer Augen hervorzuheben. Aber hier gab es niemanden, der sich für die Farbe ihrer Augen interessiert hätte. Nur Bauern - campesinos, so nannte man sie doch? Und was hieß Apotheke? Farmacia, oder? Sie konsultierte den spanisch-englischen Sprachführer, den sie in der Handtasche mitgenommen hatte, und fand das Wort unter der Überschrift »Nützliche Sätze«:
    ¿Donde está la farmacia?
    Neben der Straße lag der aufgedunsene Kadaver eines Hundes, von einer zweiten Haut aus Insekten bedeckt, und die Leute spazierten an ihm vorbei, als handelte es sich um eine Art Denkmal, als sei er in Messing gegossen und

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