Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
üblen Gerüche drangen wieder auf sie ein, die Hitze hockte auf ihr, direkt unter dem Turban (sie war nicht bereit, ihn abzunehmen, ihr verschwitztes Haar zu zeigen, sie sah bestimmt furchtbar aus), doch das alles bekümmerte sie nicht lange, denn sie war bereits dabei, eine Tablette in Wasser aufzulösen, die Spritze aufzuziehen und inmitten des Geholpers an ihrem rechten Oberschenkel, ganz oben unter dem hochgeschobenen, schweißdurchtränkten Saum ihres Kleides, eine Vene zu finden.
    Danach ging eine Brise, und der Gestank ließ nach. Der Mann an der Grenze winkte sie durch, ohne sie eines genaueren Blickes zu würdigen, die Welt nahm einen metallischen Glanz an - den Glanz des offenen Meers, von einem Liegestuhl auf Deck der SS Paris betrachtet -, und sie war nicht mehr in Mexiko. Sie war auch nicht mehr in der sonnengebleichten braunen Wüste von San Diego, war überhaupt nicht mehr an Land. Sie war auf einer Kreuzfahrt, hockte auf der Reling, den Wind im Gesicht und über sich die kreisenden Vögel. Sie war wieder unterwegs nach Frankreich.
    Wie sich herausstellte, sollte sie in diesem Jahr nicht nach Paris reisen und auch im nächsten nicht. Sie fuhr für eine Weile nach San Francisco, aber die Stadt langweilte sie - zu abgelegen, zu kalt, zu hell, die Sonne lag gleich einer dünnen Schicht Klebstoff über den endlosen Reihen von Knusperhäuschen, bei deren Anblick Frank vor Abscheu mit den Zähnen geknirscht hätte -, und dann kehrte sie zu einem ausgedehnten Besuch bei Leora Tisdell die gerade ihren Mann verloren hatte, nach Los Angeles zurück. Sie errichtete einen Brennofen hinter Leoras Gästehaus und begann, von ihrer Freundin ermuntert, für eine Weile - vom Frühling bis in den Frühsommer 1925 - wieder in Ton zu arbeiten, einfach nur, um zu sehen, ob sie ihren Blick wiedergewinnen könnte. (Auch Leora hatte künstlerische Ambitionen, und nun, da sie nicht mehr, wie sie es ausdrückte, unter der Knute ihres Mannes stand, gedachte sie, Kalifornien in Öl zu verewigen.)
     
    * Geborene Carruthers, 1870-?. Eine Jugendfreundin Miriams aus Memphis. Sie schickten einander Geburtstagsgrüße und schrieben sich auch sonst oft, doch nie waren die Briefe so leidenschaftlich und ausführlich wie in den ersten Jahren von Miriams - mit fünfzehn Jahren eingegangener - Ehe mit Emil Noel, dem Spross einer vornehmen Südstaatenfamilie, der mit Miriam nach Chicago zog, wo er ein entschieden unkünstlerischer Funktionär bei Marshall Field ’s wurde.
     
    In der ersten Woche schuf Miriam eine Büste von Leora, und Leora schuf ein Porträt von Miriam. Das Porträt sollte eigentlich naturalistisch sein, doch es war so dilettantisch ausgeführt, dass es ebensogut ein abstraktes Gemälde von Picasso oder Miró hätte sein können, und das einzige Gefühl, das es bei Miriam auslöste, war Traurigkeit. »Du weißt ja, dass ich mich damals in Paris auf einzelne Körperteile konzentriert habe statt auf Büsten, weil die so unglaublich konventionell sind. Und ich habe fast nur in Marmor gearbeitet«, erzählte Miriam ihrer Freundin eines Nachmittags, während sie Singapore Slings schlürften und die irdene Büste betrachteten, die, wie sich jetzt zeigte, um Nase und Augenhöhlen herum etwas besser hätte ausgearbeitet werden können und zudem die Glasur nicht richtig angenommen hatte. »Übrigens ist ein Paar gefaltete Hände von mir in die permanente Sammlung des Louvre aufgenommen worden«, fügte sie hinzu, und der Gedanke daran beschwingte sie, trug sie fort vom Sofa ihrer Freundin, aus deren Haus, aus Los Angeles mit seinem unerträglichen pseudospanischen Dekor und seinen schlaffen Palmen, zurück zu jenem Tag, als sie zum erstenmal durch die Türen des Museums getreten war und es dort gesehen hatte, ihr Händepaar, ausgestellt und von Menschen - Parisern - umstanden, die es bewunderten. Es war ein ekstatischer Moment, befeuert durch den Singapore-Sling-Cocktail und die Dosis morfina, die sie für ihre Verdauung genommen hatte und um das wiederaufgetauchte Zucken in ihrem Nacken - eigentlich entlang der ganzen Wirbelsäule - unter Kontrolle zu bringen, doch das Gefühl war nicht von Dauer. Ein paar Tage später nahm sie einen Abdruck von Leoras Händen, denn sie trug sich mit dem Gedanken, einen Block carrarischen Marmor zu kaufen und wieder richtig anzufangen, etwas Bedeutsames und Bleibendes zu schaffen, aber der Impuls schien mit jedem Tag schwächer zu werden, und die Sonne ging auf und wieder unter, und dann wieder

Weitere Kostenlose Bücher