Die Frauen
Stoppelfelder und die einsamen Dörfer von Illinois und Wisconsin. Sie würde diese Fahrt nie vergessen, dieses Gefühl von Geborgenheit und Umschlossensein, das sie in dem Eisenbahnwagen verspürte, während der Schnee gegen die Fenster trieb und sie die süßen Brötchen, die sie mitgenommen hatte, aß und dazu Kaffee aus dem Becher ihrer Thermosflasche schlürfte, die Welt verkleinert und friedlich. Zwar hatte sie ein Buch dabei - ein gebundenes Manuskript, das Georgei ihr vor ihrer Abreise aus Paris gegeben hatte -, doch sie schlug es nicht einmal auf. Sie nahm die anderen Passagiere kaum wahr, sprach mit niemandem. Sie war in etwas Komplexes vertieft, etwas, das sie in die tiefsten Tiefen ihrer selbst führte, und während der Waggon mal holperte und rumpelte, mal über längere Strecken ruhig fuhr, lehnte sie sich gegen das Fenster und sah zu, wie ihr schemenhaftes Spiegelbild sich mitbewegte.
* Vlademar Hinzenberg. Ein Architekt. Russe.
Tauschte sie einen Guru gegen einen anderen aus, war es das? Einen brillanten, nicht mehr ganz jungen Magier der inneren Gesichte gegen einen ebenso brillanten, nicht mehr ganz jungen Zauberer der äußeren Form und Struktur? Das Innere gegen das Äußere? Wählte sie diesen Mann - sie flüsterte seinen Namen: Frank, Frank -, weil er der höchste Gott auf einem Gebiet war, auf dem Vlademar nicht mehr war als ein Arbeitstier, Vlademar, den sie - mit Achtzehn - zu jung geheiratet hatte, weil sie es nicht besser wusste, und der sich von ihr scheiden ließ, weil er nicht zulassen wollte, dass sie sich verwirklichte, in welcher Weise auch immer? Machte es irgendeinen Unterschied, ob sie sich Frank Wright oder Gurdjieff anschloss - um zu tanzen, zu dienen, die jeweilige Ausstrahlung mit Mund, Fingern, Herz, Geist und Seele aufzusaugen? Oder suchte sie einfach nur einen Vater, einen Ersatz für den Vater, den sie verloren hatte? Es war egal, denn eines war bei alldem gewiss, eines wusste sie absolut sicher: Er gehörte ihr, wenn sie ihn wollte. Und das wiederum würde sich auf dieser Reise, während des Wochenendes, das vor ihr lag, ein für allemal erweisen.
Er erwartete sie am Bahnhof von Spring Green, sein Auto stand mit laufendem Motor am Straßenrand, die Abgaswolke vor dem frisch gefallenen Schnee wirkte geisterhaft. Schnee lag auf seinem Haar, Schnee bestäubte seine Baskenmütze, seinen Mantel und den langen Schal. »Olgivanna«, mehr sagte er nicht, und dann umarmte er sie dort auf dem Bahnsteig vor aller Augen, während sein Chauffeur - Billy Weston, einer der Arbeiter von Taliesin - ihr die Autotür aufhielt. Sie spürte, wie der Boden des Wagens unter ihr vibrierte, bekam einen Schwung Abgas in die Nase, vermischt mit dem Duft der Seife, die Frank benutzte, und dann legte Billy Weston den Gang ein, und sie fuhren los. Rasch blieb der Ort hinter ihnen zurück, und sie waren auf dem Land, die Bäume schneebeladen, die Straße mit weißem Belag, Rauch quoll aus den Schornsteinen der Farmhäuser, Vieh trampelte stumpfsinnig in den Höfen herum. Es war, als wären sie in die Vergangenheit versetzt worden.
Sie sah zu Frank hinüber. Hielt seine Hand fest in der ihren. Er redete unentwegt, die Wörter sprudelten nur so aus ihm heraus, jede Kurve, jeder Blick auf eine verblasste rote Scheunenwand ein Grund zur Freude, seine Stimme so voll und melodiös, als sänge er. Sie beobachtete seine Augen, das Flattern seiner Zunge: Er sang, und sie war sein Publikum. Sie war fast überrascht, als Taliesin in Sicht kam, der zugefrorene See, der unter einer weißen Decke lag, das Haus, das sich flach an den Boden schmiegte, geduckt unter der Last des Schnees und dem Wald von Eiszapfen am Dachgesims. Es sah aus wie etwas, das die alten Kelten oder noch frühere Völker hätten gebaut haben können: mystisch, aus der Zeit gerissen, uralt wie die Erde, auf der es stand, und der Stein der Säulen, die es stützten. Was hatte sie noch gleich gesagt, als sie die gewundene Auffahrt hinauffuhren? Dass es wunderschön sei, magisch? Ach nein: dass es lebendige Kunst sei. So hatte sie es genannt: lebendige Kunst.
Sie wurde vorgestellt - den Neutras, den Mosers und den Tsuchiuras -, dann drehten sie eine flotte Runde ums Haus, damit sie einen Eindruck von der Weitläufigkeit des Anwesens bekam, und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass man hier ein komplettes japanisches Dorf auf einen Hang in den Hügeln von Wisconsin gebaut hatte. Die Innenräume waren aufwendig für
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