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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Feigheit? Dafür, dass sie sich hinter verschlossenen Türen verstecken musste? »Warum können die uns nicht in Ruhe lassen?« sagte sie. Ihre Stimme klang belegt. Sie wartete darauf, dass er sie in die Arme nahm, doch das tat er nicht, und so ging sie zu ihm und umarmte ihn unbeholfen, legte einen Arm um seine Schultern und den anderen um seine Taille. »Ich komme mir vor wie eine Verbrecherin, als würde ich verfolgt. Gejagt. Wie Jean Valjean.«
    »Ich weiß«, sagte er. »Es tut mir leid.«
    Es tat ihm leid. Nun, ihr tat es auch leid - aber warum eigentlich? Sie waren zusammen, sie lebten nach ihren Überzeugungen. Es waren die Reporter: Sie erzeugten die hasserfüllte Atmosphäre, und das auch noch an Weihnachten; sie ließen sie nicht einmal Weihnachten in Ruhe. Sie dachte nicht nach, sie wusste nicht einmal, was sie sagte, bis die Worte aus ihrem Mund gekommen waren: »Warum sagen wir ihnen nicht einfach die Wahrheit?«
    Sie spürte, wie er sich verkrampfte, und dann löste er sich aus ihrer Umarmung und beugte sich wieder zum Kaminfeuer, um überflüssigerweise darin zu stochern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wir sollten es tun. Weiß Gott, wir sollten es tun. Aber die Nachbarn ... Sie sind so ... sie sind so selbstgerecht, so sittenstreng und einfach ekelhaft - wer weiß, wie sie reagieren würden.«
    Sie packte sein Handgelenk und zwang ihn, sie anzusehen. »Aber verstehst du denn nicht: das ist doch genau die Einstellung, die dazu geführt hat, dass Frauen all die Jahrhunderte hindurch unterdrückt wurden. Es gibt nichts, dessen wir uns schämen müssten. Schämst du dich etwa? Ich nicht.«*
     
    * Das ist beinahe wörtlich das, was Miriam unter ähnlichen Umständen vorbrachte. Siehe Seite 315.
     
    Sein Gesicht wurde ausdruckslos. Er wich ihrem Blick aus. »Nein, natürlich nicht. Es ist nur ... Wir müssen vorsichtig sein, wir dürfen nichts übereilen. Wir müssen den Nachbarn Zeit geben, sich daran zu gewöhnen.«
    Sie hörte ihm nicht zu. Ihr war ein Gedanke gekommen, der sie nicht losließ. »Ich weiß nicht ... Warum laden wir sie nicht einfach ein, die Reporter, meine ich, und geben eine Erklärung ab, eine offizielle Erklärung? Dann würde wenigstens auch mal unsere Version in der Zeitung stehen, dann würde Ellen Key für uns sprechen und die Grundsätze erklären, nach denen wir leben. Wir würden ihren Horizont erweitern. Ist es nicht das, worum es im Grunde geht?« Sie war begeistert. Ihre Augen leuchteten.
    »Du liebst mich doch, oder?«
    Er nickte.
    »Na also, dann lass es uns tun. Lass es uns der Welt verkünden.«
    Er nickte abermals, doch sie sah, dass er nicht überzeugt war. Er stand lange da, den Schürhaken in der Hand, als hätte er vergessen, wozu er diente. Dann legte er ihn sorgsam neben den Kamin und ging hinaus, um sich vor dem Abendessen zuwaschen. Sie ließ sich nicht beirren. Ihre Euphorie hielt auch während des Essens an. Frank redete und redete. Er hatte die Begegnung mit dem Reporter bereits vergessen und erzählte von seinen Plänen für ein halbes Dutzend Projekte und das Weihnachtsessen - und sie würden rodeln gehen, noch heute abend, ja, das würden sie -, doch sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie wusste, was sie nun zu tun hatte: Sie würde die Initiative ergreifen, aus dem Schatten treten, sich der Welt zeigen. In Gedanken entwarf sie bereits Reden, wandte sich an ein Publikum, das gar nicht da war und aus schemenhaften Männern mit übereinandergeschlagenen Beinen und gezückten Notizblöcken bestand ...
    Die Köchin servierte das Dessert. Frank redete noch immer. Draußen rieselte der Schnee. Es war ein kostbarer Augenblick, voller Häuslichkeit und Wahrhaftigkeit, voller Liebe und Frieden. Unvermittelt ertönte das schrille Läuten des Telefons. »Bleib sitzen, Frank«, sagte sie. »Ich gehe ran.«
    Sie ging durch das Zimmer, nahm den Hörer ab und sagte: »Hallo?«
    »Mrs. Cheney?« Die Stimme des Mannes am anderen Ende klang einschmeichelnd und eigenartig vertraut, und noch bevor sie antwortete, erkannte sie sie wieder: Es war der Mann, der zuvor an der Tür gewesen war und der es jetzt mit einem kleinen Trick versuchte. Sie hätte sagen können: »Nein«, oder: »Jemanden dieses Namens gibt es hier nicht.« Sie hätte ihm einfach etwas vorlügen können. Aber damit war es jetzt vorbei. »Ja«, sagte sie, »am Apparat.«*
     
    * Angesichts der heutigen Reputation der Presse mag es überraschen, wieviel Respekt man ihr zu Wrieto Sans Zeit

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