Die Frauen
erfüllt von Stolz und Genugtuung, dass sie am liebsten eine Parade von einem Ende des Bezirks zum anderen angeführt hätte.
Er sprach freimütig über seine erste Ehe: Er habe zu jung geheiratet, und als er dann künstlerisch gereift sei, hätten seine Frau und er sich intellektuell auseinanderentwickelt; dabei habe er sich stets bemüht, sein Leben aufrichtig zu leben und nach moralisch einwandfreien Grundsätzen auszurichten. Einer der Männer - sie fasste ihn sogleich ins Auge: es war der mit den schmalen Schultern, dem sackartigen Jackett aus blauem Serge, den durchweichten Stiefeln und der laufenden Nase - nickte zustimmend. Gut, dachte sie, bravo! Und dann sprach Frank von ihr und den Prinzipien, auf die ihrer beider Liebe sich gründete - »Mrs. E. H. Cheney hat für mich nie existiert, in meinen Augen war sie immer Mamah Borthwick, ein eigenständiger, selbstbestimmter Mensch und nicht der Besitz irgendeines Mannes« -, und ein Schauer überlief sie, denn das war es, genau das war es ja: nicht der Besitz irgendeines Mannes, sondern ein eigenständiges Individuum und jedem Mann auf der Welt gleichberechtigt. Und Frank stand hier in der Öffentlichkeit und proklamierte diese Wahrheit. Er benutzte seinen Spazierstock, um sie zu unterstreichen, so energisch und entschlossen wie ein Redner im Senat. Und schließlich sprach er noch ausführlich über seine Kunst und darüber, was es bedeute, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen und nach Maßstäben beurteilt zu werden, die nicht die eigenen seien und zu denen man sich nie bekannt habe.
Danach - und sie waren interessiert, o ja, sie waren höchst aufgeschlossen und fasziniert, jeder einzelne ein potentieller Verfechter von Ellen Keys Thesen - gab es Fragen, sowohl an Frank als auch an sie, forschende Fragen, ernsthafte Bitten um Erläuterung. Sie hatte das Gefühl, dass diese Männer verstehen, helfen und vor allem ihre Botschaft der ganzen Welt mitteilen wollten, und sie legte sich keine Zügel an und ließ ihr Herz sprechen. Und Frank tat dasselbe. Er sprach immer mitreißender von der Beengtheit einer Ehe ohne Liebe und von den Beschränkungen, welche die Gesellschaft den mediokren und den großen Geistern gleichermaßen auferlegte. »Im großen und ganzen«, sagte er und ging auf und ab, wobei aller Augen ihm folgten, »will ich auf folgendes hinaus: Gesetze und Regeln sind für den Durchschnitt.
Gewöhnliche Menschen können nicht ohne Regeln leben, die ihnen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Es ist unendlich viel schwerer, ohne Regeln zu leben - doch genau das ist es, was ein wirklich aufrichtiger, wahrhaftiger, denkender Mensch tun sollte.«
Und jetzt hob der schmächtige Mann in dem blauen Serge-Anzug die Hand und stellte eine Frage. Er schneuzte sich erbarmungswürdig, wischte die Nase mit dem Taschentuch ab und sagte mit belegter, schleppender Stimme: »Aber was ist mit Ihren Familien, Ihren Kindern? Sie sind von Ihnen getrennt, nicht nur an Weihnachten, sondern auch den Rest des Jahres.« Er putzte sich abermals die Nase, und alle warteten geduldig, bis er fortfuhr. »Ist das die Art, wie ein aufrichtiger, wahrhaftiger, denkender Mensch sich seine eigenen Regeln schafft? Was ist mit ihnen? Was ist mit den Kleinen?«
Es trat eine Stille ein. Ein Reporter stand abrupt auf. Ein anderer wiederholte mit emotionsgeladener Stimme: »Ja, was ist mit den Kindern?«
Sie spürte, wie sich etwas in ihr verkrampfte. Plötzlich sah sie John in seinem Schlafanzug und Martha in ihrem Nachthemd, wie sie aus dem Bett sprangen und zwitschernd wie Vögel durch das Haus rannten, den Baum, der in seiner ganzen Pracht dastand, und ihre Gesichter, wenn sie sahen, was der Weihnachtsmann ihnen mittels der magischen Manöver seines fliegenden Rentierschlittens gebracht hatte. Ihre Kinder. Weihnachten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Wir stehen natürlich mit ihnen in Kontakt«, hörte sie Frank sagen.
»In Kontakt?«, entgegnete der Mann im blauen Serge-Anzug, und sein sarkastischer Unterton war nicht zu überhören.
»Wir haben ihnen Geschenke geschickt. Und Weihnachtskarten und so weiter. Und meine beiden ältesten Söhne Lloyd und John werden in Kürze in meinem Chicagoer Studio mit mir arbeiten, und Mrs. Borthwicks Kinder, äh ...«
Ein anderer Reporter, ein fleischiger Mann mit zerzaustem Haar und einem Teint wie zwei Wochen alte Graupen, warf die Namen ein: »John und Martha.«
»Ja, John und Martha«, fuhr Frank fort, und wieder
Weitere Kostenlose Bücher