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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nicht ehe Miriam unschädlich gemacht war. Eigentlich wusste er es doch besser - aus leidvoller Erfahrung. Doch was hatte ihn diese Erfahrung gelehrt? Nichts. Er sah etwas, was er haben wollte, und nahm es sich. Das war sein Wesen. Das war sein Recht. Und da lag sie nun, das Objekt seiner Begierde, blass, erschöpft, einen Speichelfaden auf der Wange, zwischen zwei bedürftige Kinder in ein schmales Schlafwagenbett gezwängt - eigentlich selbst noch ein Kind - und ohne ein Zuhause.
     
    * Eine untypische Erscheinung bei Wrieto-San.
     
    Im Gang vor der Tür hörte man plötzlich Leute reden - eine Männerstimme und eine Frauenstimme, von erotischer Spannung und dem leichten Rausch des Reisens erfüllt -, und als die beiden vorbeigegangen waren, schaute er wieder zu Olgivanna hinüber und spürte, wie ihn Ungeduld erfasste. Was war bloß mit ihr los? War sie schwächer, als er gedacht hatte? Er konnte sich nicht erinnern, dass Kittys Entbindungen so schwer gewesen wären, und sie hatte ihm immerhin sechs Kinder geboren.*
     
    * Catherine »Kitty« Tobin Wright (1871-1959), Wrieto-Sans erste Frau. Sie heirateten gegen jede Vernunft und jeden Rat, als er einundzwanzig war und sie gerade die Highschool abgeschlossen hatte. Die Kinder - Lloyd, John, Catherine, David, Frances und Llewellyn - kamen rasch hintereinander, wie Pflaumen, die vom Baum fallen. Wrieto-San reagierte offenbar mit Verwirrung auf sie. Es ist nicht davon auszugehen, dass ihn Catherines Schwangerschaften groß beschäftigten, abgesehen von den offensichtlichen finanziellen und architektonischen Anforderungen, die daraus erwuchsen.
     
    Doch auch er war erschöpft. Die Räder ratterten über die Schwellen, und ihm wurde flau im Magen. Ihm fiel ein, dass er seit dem vorangegangenen Abend nichts gegessen hatte. Er schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach neun, der Zug fuhr jetzt über offenes Land, und obwohl die Lage verzweifelt war, ja furchtbar, und noch schlimmer werden würde, munterte ihn der Anblick der ordentlichen Farmhäuser und soliden roten Scheunen mit ihrem Patchwork aus Strohballen und dem vor der Küchentür gestapelten Brennholz auf. Er würde die Kinderschwester holen, dachte er, damit sie ein Auge auf das Baby hatte, und dann in den Speisewagen gehen, um etwas zu frühstücken, Eier, Pfannkuchen, eine Scheibe Schinken, Soße, Bratkartoffeln, doch er blieb sitzen und wachte über Olgivanna und die Kinder, sah zu, wie sie die Luft einsogen und wieder ausstießen, ein Atemzug nach dem anderen, im sanften, auf- und abschwellenden Rhythmus ihres Schlafs.
    Was er ihr nicht, noch nicht, gesagt hatte, war, dass sie auch nach ihrem Exil bei Olgivannas Bruder nicht nach Taliesin zurückkehren konnten, denn Miriam kannte jetzt kein Halten mehr, eine turbantragende, juwelengeschmückte Harpyie, die flügelschlagend und mit ausgestreckten Krallen durch die Lüfte sauste, die Kiefer zu einem unirdischen Wutschrei aufgesperrt, sie gewährte kein Pardon und erwartete auch keines. Jeder Tag brachte etwas Neues. Sie war nicht damit zufrieden, eine bettlägrige Frau aus ihrem Krankenhausbett vertrieben zu haben. O nein, nicht Miriam.
    Sie wandte sich direkt an die Einwanderungsbehörde und richtete weiteres Unheil an, indem sie eine Beschwerde einreichte, um Olgivanna als unerwünschte Ausländerin ausweisen zu lassen. In ihrer eidesstattlichen Versicherung bezeichnete sie Olgivanna als Ausländerin, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Taliesin - in ihr, Miriams, Zuhause - gekommen sei, sie habe sich nämlich als Hausangestellte ausgegeben, wo sie doch in Wirklichkeit »der Bettschatz« ihres Mannes sei. Seine Geliebte. Seine Hure.
    Sein Herz krampfte sich vor Hass zusammen. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Miriam - wie er sie in einer Phase mangelnder Wachsamkeit in sein Leben hatte treten lassen, wie dumm er gewesen war, wie schwach und voller Illusionen. Seine Laune verschlechterte sich. Die Farmen begannen hässlicher auszusehen, unordentlicher, vernachlässigt, renovierungsbedürftig. Lange sah er zu, wie sie auftauchten und wieder verschwanden, zwischen kahlen Baumskeletten, gefrorenen Mooren und bis in die Wurzeln totem Strauchwerk. Und er stand nicht auf, um zu frühstücken, einen Kaffee zu trinken, die Kinderschwester zu holen oder sonst etwas, sondern saß einfach da, bis all die Felder vorüberzogen wie ein einziges und vor dem Fenster alles verschwamm.
    War die Reise schon eine Prüfung gewesen, so war die Ankunft

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