Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
nieder wie ein offene Abwasserkanäle. Ausgemergelte Hunde lauerten im Schatten, und feldmausgroße Küchenschaben hingen an der Decke oder raschelten unter dem Bett. »Wir leben wie die Zigeuner, Frank«, sagte Olgivanna immer wieder zu ihm, etwas Schroffes in der Stimme, das er nie zuvor wahrgenommen hatte, die Farbe auf ihren Wangen wie das Rouge im Gesicht einer Leiche, ihre Glieder so dünn wie die Stengel des auf den Feldern grünenden Zuckerrohrs, »und ich werde keinen Frieden finden, solange ich nicht zu Hause bin, da, wo ich hingehöre. Und Svetlana - was ist mit Svetlana? Sie braucht ein normales Leben. Sie muss in die Schule gehen, das siehst du ja wohl ein. Das hier ist kein Land für sie. Es ist ein armes Land. Es macht mich traurig, hier zu sein und diese entwürdigten Menschen in ihren Lumpen sehen zu müssen.«
    »Aber die sind hier zu Hause«, erwiderte er, obwohl er ihr insgeheim zustimmte.
    Könnte es doch nur ein Puerto Rico ohne die Menschen geben, es wäre ein Paradies.
    »Sie kennen es nicht anders.«
    Ihre Stimme war belegt, ihre Antwort eine Folge peitschender Laute: »Sicher, aber ich will nichts davon wissen.«
    Sie hielten einen Monat durch. Am letzten Tag, dem Tag bevor sie die Schiffsreise nach New York antraten, um von dort aus, komme was da wolle, nach Chicago, Madison und Spring Green weiterzufahren, sah er auf dem Rückweg von der Plaza zu seiner Verblüffung einen Mann auf einem Pferd, der sich vorbeugte und etwas Unverständliches in eines der niedrigen Flügelfenster der Hotelküche hineinrief. Er war sehr dunkelhäutig, dieser Mann - fast schwarz -, und für die Dauer eines entsetzlichen Augenblicks trat ihm das Bild Carletons* vor Augen, Carleton, wie er als Mann mittleren Alters ausgesehen hätte, und er blieb wie angewurzelt stehen. Der Gestank von Fäkalien stieg auf. Zwei schillerndgrüne Libellen landeten in einer Pfütze und flitzten wieder davon. Das Pferd des Mannes wankte im Stehen, so verkrümmt und ausgehungert, dass es aussah wie ein Gespenst, die Augen leer, das Fell vom Staub der Straße stumpf, und jetzt sah er, dass der Mann etwas im Arm hielt - ein Huhn, in einen roten Lumpen gewickelt. »Gallina«, rief der Mann. »Se vende una gallina. Muy barata. «
     
    * Julian Carleton, 1888(?)-1914. Diener, Barbadier, Mörder. Siehe im folgenden.
     
    Aus der Küche ertönte das Scheppern von Töpfen. Niemand antwortete.
    Wäre nicht das Licht gewesen, die Art und Weise, wie es die Geometrie der nahen Mauer hervorhob und in die Kanten des Nebengebäudes schnitt, als solle hier etwas Neues erschaffen werden, etwas Fließendes, von Betonblock und Stuck Unabhängiges, etwas, das ganz und gar eine momentane Schöpfung der Sonne war, dann wäre er weitergegangen - er hatte es eilig, musste noch einige Vorbereitungen treffen, Koffer packen, Anwälte telegrafisch zu Rate ziehen und verpflichten, ein Mittagessen für Olya und Svet organisieren - doch er blieb stehen, fasziniert von dem Spiel der fließenden Schatten und dieser eigenartigen Szene. Und nun kam einer der Kellner des Hotels aus der Tür geschossen und begann den Mann mit hoher, angestrengter Stimme auszuschelten. Sofort sackte der Mann im Sattel nach vorn, als hätte er einen Hieb in den Magen bekommen. »Barata«, beteuerte er. »Barata. «
    »Was ist los?« fragte Frank den Kellner. »Was will er?«
    Der Kellner hatte ein rundes Gesicht und trug eine weiße Jacke, unter deren verschmutztem Kragen er gewaltig schwitzte, schon geschwitzt hatte, als sie gekommen waren, und auch nach ihrer Abreise weiterhin schwitzen würde. »Gar nichts ist los, Don Frank«, sagte er mit demonstrativem Achselzucken. »Außer dass er aus den Bergen kommt« - er wies über das rote Ziegeldach zu den undeutlich erkennbaren, mindestens fünfzehn Kilometer entfernten Felsspitzen der Cordillera Central. Noch ein Achselzucken. Er bedachte den Mann auf dem Pferd mit einem feindseligen Blick -, »um dieses Huhn zu verkaufen, das weniger Fleisch auf denKnochen hat als eine Taube, nein, als ein Spatz.«
    »Aber warum? Warum kommt er von so weit her, nur um ein Huhn zu verkaufen?«
    Jetzt hefteten beide Männer die Augen auf ihn.
    »Weil er nichts hat. Weil er Geld braucht.«
    Plötzlich kam er sich sehr dumm vor. Er stand in der grellen Sonne und stellte sich die aus einem einzigen Raum bestehende Hütte vor, die ohne Blaupausen, ohne Hammer und Nägel, ohne irgendein Werkzeug außer einer schartigen Machete zusammengebastelt worden war, das

Weitere Kostenlose Bücher