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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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sooft es ging, bis es keinen Sinn mehr ergab, und hinterher vertrugen wir uns wieder, redeten, streichelten uns und versuchten, wenn es auf diese ganz spezielle Weise still wurde zwischen unseren ratlos im Raum herumstehenden Körpern, Geständnisse zu murmeln, ehrlich und verzagt, als ob wir noch ganz am Anfang stünden. Ja, damals … Lydia verwechselt ihre Handschuhe und glaubt, ihre Finger seien über Nacht angeschwollen.
    –
Eine allergische Reaktion vielleicht
.
    –
Nein, du hast nur links mit rechts verwechselt
.
    –
Passiert mir andauernd
.
    Sie taumelt gegen mich.
    –
Ja, man sagt doch, links und rechts, bei Frauen –
    –
Pass bloß auf, was du sagst, Macho
.
    Ein weiteres, kleines Taumeln. Nur ihre Hüfte, gedämpft von einer Handtasche.
    –
Nein, das ist eine Tatsache, kein Macho-Gerede. Frauen verwechseln tatsächlich links und rechts. Das hat irgendwie mit dem Gehirn zu tun
.
    –
Du solltest hören, was du für einen Unsinn daherredest. Das hat wahrscheinlich auch mit dem Gehirn zu tun
.
    Ich stieß den Magnetschwebestift an, er zitterte vor sich hin. Dann ging ich durch die Wohnung, die auf eine niederschmetternde Weise still war, auf der Suche nach einem Wasserglas; nie stand eines in der Nähe, wenn man es brauchte. Der Küchenschrank war leer. Die drei Gläser, die ich besaß, waren ständig an unauffindbaren Orten in der Wohnung versteckt. Wenn sie bei mir war, trank Lydia nie zweimal aus demselben Glas.
    Ich fand eines auf dem Klavier. Es stand, etwas schief, auf der Holzabdeckung, die zum Schutz über die Tasten geklappt war, und wartete darauf, dass man es wieder befüllte. Ich warf zwei Aspirintabletten hinein. Während sie sich zischend und schäumend dagegen wehrten, ließ ich das Rollo in meinem Zimmer herunter, bis auf eines. Die Sonne war bereits untergegangen, also würde ich nicht viel verpassen; der kleine Ausschnitt auf die Welt genügte. Irgendwann gingen die Leuchtreklamen auf den höheren Gebäuden und Baukränen an.
    Als ich zu meinem Glas Schaumwasser zurückkehrte, war darin eine winzige Fliege ertrunken. Ich fischte sie mitdem kleinen Finger heraus. Warum war sie da überhaupt hineingeraten? War sie ausgerutscht? Spürte sie nicht, dass es darin giftig war? Acetylsalicylsäure. Dummes Vieh.
    Bevor noch ein Tier darin verenden konnte, trank ich das Glas halb aus, mehr bekam ich nicht hinunter. Der seltsam steife und ungelenkige Geschmack von Aspirin, mehr wie die Vorstellung eines Geschmacks.
    Ich blieb lange wach und saß am Fenster. Ein unsagbar angenehmes Geräusch mischte sich in meine Niedergeschlagenheit. Früher fuhren sie noch lautlos im Rückwärtsgang durch die Nacht, LKWs und größere Spezialfahrzeuge, und man rannte ihnen ahnungslos in den Weg, wurde angefahren oder kam unter die Räder. Heute jedoch ertönt dieses charakteristische Warnsignal, ein schwerfällig wiederholter Sinuston, bei jedem Zentimeter, den sie zurücklegen, und natürlich sind diese insistierenden und echolosen Warntöne längst zu einem Refrain unserer Zeit geworden: In den Nächten machen sie sogar den Turmuhren Konkurrenz, sie alarmieren und sie halten wach, laut und unnachgiebig, selbst wenn das Fahrzeug nur daran zu denken scheint, rückwärts zu fahren, und völlig still vor einem Lieferanteneingang oder einem mit Engeln verzierten Eisentor eines Friedhofs steht und darauf wartet, in Bewegung gesetzt zu werden.
    Von meinem Fenster aus sah ich eines dieser Fahrzeuge, ein friedliches Monster, von einer albernen Firmenaufschrift verhöhnt wie ein seelenloser Formel-Eins-Pilot, und schlaflos wie ich.
    Schon nach wenigen Minuten denke ich wieder an Valerie. Ich halte meinen halb erigierten, schmerzenden Penis mit der rechten Hand umklammert. Ich bewege die Hand nur ganz leicht auf und ab (die gestutzte Vorhaut über der Eichel zwinkert, obwohl sie seit der Operationviel zu kurz ist), gerade kräftig genug, dass man es noch Masturbation nennen kann.
    Ich genieße den herrlichen Anblick einer Stadt, die langsam in Nacht und Schwärze übergeht. Die Menschen auf der Straße ziehen für eine Weile diese langen, majestätischen Abendschatten hinter sich her, welche mit dem Niedergang des Tages immer länger und imposanter werden, bis es unvermittelt dunkel wird – und die Schatten in die Unendlichkeit davonschießen, in jene seltsame Vorhölle des dreidimensionalen Raumes, in der sich nur noch parallele Geraden schneiden.
    Etwas später zieht ein leichtes Gewitter über die Dächer.
    Regen,

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