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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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durchgedreht war. Ein traumatisierter Vogel, ein entsetzter Hund. Ein Stoß Papier voller Zahlen. Bestimmt würde sein, Walters, Gesicht erscheinen, wenn man alldiese Zahlen auf dem Boden nebeneinanderlegte, wie in diesem Science-Fiction-Film, in dem Außerirdische einem taubstummen Mädchen andauernd Einsen und Nullen diktieren.
    – Ich versuche hier wirklich nicht, Sie irgendwie anzuklagen, sagte Valerie. Sie können nichts dafür.
    – Nein, nein …
    Walter nieste absichtlich, um etwas Zeit zu gewinnen, abzulenken.
    – Einen Fehler habe ich natürlich gemacht, plauderte Valerie. Ich habe Gabi darauf hingewiesen, dass das mit den Frequenzen vielleicht mehr als
Bild
gemeint war. Da ist sie schon zusammengezuckt, und ich hätte sie beruhigen müssen. Aber … darüber wollte ich mit Ihnen eigentlich gar nicht reden –
    – Dann lassen wir das, würde ich vorschlagen, sagte Walter.
    War sie wieder bekifft?
    – Hören Sie mir zu, sagte Valerie etwas bestimmter. Als ich Gabi erzählt habe, dass Sie nur eine Rolle gespielt haben, eine notwendige und ergänzende Rolle, rein zu Therapiezwecken, hat sie vollkommen irrational reagiert. Sie ist richtig über die Ufer getreten! Sie hat erzählt, dass sie ihrem
Kind
– und dieses Wort hat sie mehrere Male wiederholt, hat sich dabei auf die Stirn geschlagen und gesagt
Natürlich, natürlich
–, dass sie also ihrem Kind eine Nadel, ja, eine echte Nadel in die Wiege gelegt hat, nur um zu sehen, ob das Schicksal es gut mit ihr meint oder nicht! Verstehen Sie jetzt, wie ernst diese Angelegenheit ist? Und dann sind mir ihre ganzen verdammten Zettel auch schon um die Ohren geflogen! Und Sie sollten erst meine Hündin sehen … Sitzt schon den ganzen Abend vor der Wohnungstür und scharrt. So durcheinander istsie! Es muss etwas zwischen Ihnen beiden gewesen sein. Walter, bitte …
    Er musste sich verhört haben.
    – Augenblick, Augenblick. Sie haben
was
?
    – Was?
    – Sie haben ihr erzählt, dass ich nicht wirklich –
    – Natürlich, sagte Valerie mit fester Stimme. Das war schließlich eine Ausnahmesituation. Die Patientin hat ein Recht, alles zu erfahren. Mein Gott, ich weiß bald wirklich nicht mehr, was ich mir dabei gedacht habe, ich hätte nie einen Laien –
    – Aber das können Sie doch nicht einfach so, brüllte er in den Hörer, ich meine …
    Walter war entsetzt. Das alles ergab doch längst keinen Sinn mehr! Diese Frau tat, was ihr ihre momentane Stimmung diktierte. Einmal so, dann wieder so. Völlig unprofessionell! Sie gehörte hinter Gitter, sie war ja selbst vollkommen übergeschnappt!
    – Sie!, zischte Walter, selbst erstaunt über die ungeheure Wut, die er empfand.
    Am anderen Ende war es eine Zeitlang still.
    – Bitte beruhigen Sie sich, sagte Valerie schließlich. Es geht hier überhaupt nicht um Sie, verstehen Sie das? Trotzdem ist es jetzt sehr wichtig, dass Sie mit mir zusammenarbeiten. Dafür habe ich Sie angestellt. Sie sind Schauspieler, das waren Sie von Anfang an, und die Aufgabe, die ich Ihnen überantwortet habe, war bei Gott nicht so schwierig! Ich begreife also nicht, warum Sie –
    Walter legte auf.
    Zuerst verstand er gar nicht, was sein Daumen da getan hatte, dann fühlte er eine enorme Erleichterung.
    Am nächsten Tag, am späten Nachmittag, bekam er noch einmal einen Anruf, diesmal war die Sprechstundenhilfe am Apparat. Sie fragte ihn, ob er wisse, wo Valerie sei.
    – Keine Ahnung, sagte Walter tonlos.
    Er wartete und schloss die Augen. Blasse Farbflecke wanderten durch sein Gesichtsfeld. Waren sie immer da? Oder nur, wenn er die Augen schloss? Am äußersten Rand blinkte ein Licht.
    Er stellte sich auf ein ausführliches Interview ein. Aber das Gespräch überlebte gerade einmal seine erste, bescheidene Frage nach Valeries Verbleib, da die Sprechstundenhilfe sich wieder um den unverständlichen Lärm kümmern musste, den man im Hintergrund hörte. Menschen schrieen irgendwas durcheinander, jemand brüllte sehr laut das Wort
Zahl
.
    Vielleicht passierte das alles ja jemand anderem. Der Gedanke stand einen Augenblick lang vor ihm und lockte ihn mit seiner befreienden Fiktion, dann verwarf er ihn. Er steckte in seinem Schicksal fest und niemand konnte ihn daraus befreien. Nicht einmal er selbst. Es sei denn, er besaß so etwas wie einen freien Willen. Einen Freien Willen, mit großem F.
Selbstverständlich glaube ich an den freien Willen, ich habe ja gar keine andere Wahl
, hatte Isaac B. Singer einmal gesagt. Kein riesenhafter Retter

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