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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Fahrrad, schüttelte ihre kräftigen Hände aus den Ärmeln und band sich das strähnige, schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie nahm den Rucksack ab, in dem ein paar Drumsticks knöchern aneinander rieben, dann verschwand die junge Frau im Hauseingang.
    Seit seinem Unfall wohnte Messerschmidt zeitweise ganz allein. Seine Abgeschiedenheit war so groß, dass er nicht einmal den Drang nach Selbstgesprächen oder tierischer Nähe verspürte. Manchmal war er sich selbst zu viel. Ein Raum, in dem er sich befand, war bis zum Bersten gefüllt.
    Der Hergang seines Unfalls kam ihm jeden Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen, die über seinem Bett flimmerten, wieder zu Bewusstsein. Alles begann bei der Tabaktrafik. Das heruntergekommene, von einer alten, schon etwas lahmen Frau betriebene Geschäft lag sehr ungünstig, daran gab es nichts zu rütteln, mitten auf einer Art Verkehrsinsel, auf der nur das Häuschen und ein kleines Rasenstück Platz fanden, in Schach gehalten von einem nie abreißenden Verkehrsstrom, und Messerschmidt war sich sicher, dass er noch nie einen anderen Kunden gesehen hatte als diesen dicken Mann, der dortmanchmal auf und ab ging, ein unsympathischer Kerl mit einem kreisrunden Gesicht. Wie eine Karikatur von dem Mann im Mond.
    Messerschmidt überquerte diese Straße nun schon zum tausendsten Mal, und immer fühlte es sich gleich an. Der Verkehrslärm wurde ein wenig lauter, wenn man in der Mitte der Kreuzung stand, der Augenblick ballte sich zusammen und entließ einen wieder, auf die andere Straßenseite. Unendlich fließender Verkehr. Autos in verschiedenen Farben und Formen.
    Die Ampel war grün und alles lud ihn ein zu gehen. Aber aus unerfindlichen Gründen zögerte er eine Sekunde, bevor er sich in Bewegung setzte. Die weißen Zebrastreifen glitten langsam unter ihm dahin, wie gigantische Leitersprossen im Traum. Er blieb stehen, in Betrachtung des schwarzen Zwischenraums zwischen den Streifen. Er wirkte ungewöhnlich tief, wie ein unbewegtes Moorgewässer. Und die Zebrastreifen selbst wie die Rücken schlafender Krokodile, über die man springen musste.
    Von hinten näherte sich Lärm, ein großes, schwarzes Fahrzeug, das von hinten auf ihn zukam. Das Motorengeräusch schwoll an, und der Laster rauschte an ihm vorbei, zog irgendetwas von ihm mit, aber Messerschmidt konnte nicht erkennen, was es gewesen war, seine Armbanduhr war jedenfalls noch an ihrem Platz. Aber warum blickte er ausgerechnet auf seine Uhr? Sein linker Arm kribbelte. Da bemerkte er, dass die Zeiger der Uhr nur mehr sehr langsam gingen. Die Batterie war wohl schon schwach.
    Messerschmidt fluchte leise und trat auf den Gehsteig. Dabei stolperte er und stieß sich das Knie. Er rollte das Hosenbein hoch, um zu sehen, ob es sehr schlimm war. Ein kleiner Kratzer, nichts Weltbewegendes.
    Ein einsamer Mann mit Zeitung stand an der Ecke. Messerschmidt sprach ihn an, ob er wisse, wie spät es sei. Der Mann kräuselte die Nase, als müsste er niesen, dann entspannte sich sein Gesicht wieder. Messerschmidt trat nahe an ihn heran. Der Blick des Mannes wurde immer ausdrucksloser und leerer, bis er Messerschmidt Angst machte.
    Nach einer Weile sah der Mann tatsächlich auf die Uhr und kratzte sich am Handgelenk.
    Na, egal, er würde eben zu spät zur Arbeit kommen. Er liebte seine Arbeit. Zeichner in einem Architekturbüro, ein schöner Beruf. Man verdiente zwar nicht viel, aber es machte Spaß, sich mit den Wünschen eines kreativen Menschen zu beschäftigen, der zudem noch mehr vom Leben zu verstehen schien als andere.
    Trotzdem, er fühlte sich seltsam. Als ginge er auf Watte.
    Er schüttelte den Kopf.
    Tatsächlich?
    Ja, es war sein Kopf gewesen. Mein Gott, er war heute wirklich etwas neben sich.
    Er würde seinen Vorgesetzten, den Architekten Zmal, bitten, ihn heute etwas früher nach Hause gehen zu lassen, zu seiner Tochter, die in kurzer Zeit ihre Praxis eröffnen würde. Ja, sie war jetzt einunddreißig, aber sie lebte immer noch bei ihm. Das war ungewöhnlich, zugegeben, aber sie bildeten ein gutes Team. Er hatte sie nie ausdrücklich gebeten, weiter bei ihm zu wohnen. Nein, das war ihre eigene, schwer zu durchschauende Entscheidung gewesen. Er war sich sicher, wenn er etwas dazu gesagt hätte, hätte sie es sich anders überlegt. Sie war ein Trotzkopf. Wenn du einmal ausziehst, wenn du einmal einen Mann findest, mit dem du leben möchtest, dann bleib ich hier mitdem Hund allein, hatte er ihr gesagt. Sie wechselte darauf

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