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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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war er. Allein. Der einzige Tote weit und breit. Niemand sonst war je gestorben. Nur ihn hatte dieses sonderbare Schicksal getroffen. Sein Kopf war vielleicht noch nicht ganz tot, wo er sich befand, ließ sich allerdings nicht genau sagen. Ein letzter Rest von Leben flackerte noch darin und imaginierte sich Städte, einen Himmel, einen Horizont hinter den Häuserfassaden (tatsächlich, man spürte ihn, wenn man sich anstrengte, eine gleißende Linie, wo die Halbkugel der Welt aufhörte und die brausenden Wasserfälle der Ewigkeit anfingen), stellte sich Spielplätze vor und Schreibtische, erschuf sich Tag und Nacht, die Stimmen und Bewegungen anderer Menschen, so wie er es immer getan hatte. Er war ein Kopf, ein denkendes Gehirn im Cockpit eines verrottenden Körpers.
    So musste es sein.
    Und jeden Morgen kam der Hund und leckte seine nackten Beine ab, manchmal auch sein Geschlecht. Und zog ihm eine frische Windel an. Nein, nicht der Hund.
    Ach, er hatte nur verschwommene Theorien über die Zeit seines Aufenthalts. Vielleicht dauerte das Nachglühen seines Verstandes nur Sekunden. Aber genauso wie der Traum einer einzigen Nacht mehrere Jahrzehnte dauern konnte (von den schwierigen, senil-unverständigen Jahren der Pubertät über die Hochzeit bis hin zum ersten Enkelkind, das man überlebt), so erstreckte sich dieser letzte Rest vielleicht unendlich lange in die Zeit hinein. Wie die Nachkommastellen einer irrationalen Zahl. Immer kleiner, immer detailreicher. Das allmähliche Versickern von Buchstabensuppe.
    Am liebsten hatte er die Hündin gehabt. Warum war sie fort? Eine schwierige Frage. Er fand darauf keine Antwort. Eine Halskrause aus blau-transparentem Plastik spielte dabei eine Rolle, aber es war nicht ganz klar, welche. Mit dem Ding sah die Hündin aus wie eine Trompete, die ängstlich vor sich selbst davonläuft. Armes Tier. Wo war sie jetzt?
    Hunde waren letztendlich immer rätselhaft, undurchschaubar. Ganz anders die Katzen, die machten kein Geheimnis daraus, dass sie sehen konnten, was mit ihm los war. Sie waren ein Fall für sich.
    Jetzt allerdings war alles still, und vielleicht befand sich niemand mehr auf der Erde. Messerschmidt war ganz allein.
    Früher hatte es auch noch einen anderen Bewohner gegeben, ein schreiendes Kind, das in den Lampen wohnte, sie hin und wieder zum Schaukeln brachte, und ein ungesundes, leicht gelbliches Licht verbreitete, das die Menschentraurig stimmte, ohne dass sie es merkten. Sie wurden finster und melancholisch, deuteten in Gesprächen schwer verzeihliche Dinge an und fielen einander ins Wort. Ah, diese sonderbaren Momente in den Gesprächen Erwachsener, in denen sich plötzlich eine unsichtbare Wand auftut, und beide Gesprächspartner prallen mit der Stirn dagegen. Dann wenden sie sich ab, gehen in ihre Ringecken zurück und schweigen. Sie sehen zu Boden und mischen ihre Worte neu wie ein Deck Spielkarten. Spricht man sie an, heben sie nur ihre Gesichter und lächeln entschuldigend, als hätte man sie auf Chinesisch nach dem Weg gefragt.
    Das Lampenkind schluchzte und heulte die ganze Zeit, als wäre die Welt vor seinen Augen in tausend winzige Glassplitter zersprungen, als hätte sich alles Lebendige als ein undurchdringliches Wachsfigurenkabinett entpuppt.
    Irgendwann wurde das Kind dann schlafen gelegt. Man nannte es wohl so, nicht nur bei Bewohnern, die in ihrer Kindergestalt stecken geblieben waren, nein, hier war es nur ein Zufall – auch ein uraltes Männlein, das im Garten wohnte und dort seine unverständlichen Klagen von sich gab, oder ein einzelner, gottverlassener Arm, dessen Handfläche manchmal blass durch Spiegelbilder blinzelte, als winke sie Auf Wiedersehen, konnte man schlafen legen, wenn man nur wusste, was zu tun war.
    Seit das Kind nicht mehr schrie, gehörte Messerschmidt die ganze Wohnung. So zumindest schien ihm die Reihenfolge. Chronologie gehörte seit sehr langer Zeit nicht mehr zu seinen Stärken.
    Er genoss diesen vorübergehenden Frieden. Mit Sicherheit war es nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein neuer Bewohner zu ihm stoßen würde, der Platz auf Erden warbegrenzt und der Schmerz in diesen zugigen, wetterfühligen Räumen einfach zu dicht.
    Aber vorerst blieb er allein.
    Allein. Der absurdeste Zustand von allen.
    Als wäre die Eins eine wirkliche Zahl, mit der man etwas anfangen konnte. Dabei war sie lediglich die Vorform einer Zahl, eine Art abstrakte Masturbation. Und die Null war überhaupt keine Zahl, sondern ein Phantom, eine

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