Die Frequenzen
Auge stand ich vor der mit zahlreichen Schmetterlingsbroschen ausgezeichneten Sekretärin und erklärte ihr mein Problem. Ich versuchte, auf die Uhr zu sehen, ich musste Lydia ja noch vom Bahnhof abholen, aber das Bild war sehr verschwommen. Die Sekretärin warf einen Blick auf den Terminkalender, der wie eine Landkarte vor ihr ausgebreitet lag, und schwieg. Dann, nachdem sie die schwierigen Berechnungen im Kopf beendet hatte, sagte sie, der Doktor könne mich vielleicht irgendwo einschieben.
– Es ist ein Notfall, sagte ich. Ich bin verletzt.
– Ja, das sieht man, sagte sie freundlich. Da sind Sie bös gestürzt.
Nach etwa einer Stunde kam ich dran.
– Herr Kernfuchs bitte!
– Ker!
– Wie bitte?
– Ker. Man spricht es Keerfuchs aus. Wie mit stummem Ha:
Kehr
–
– Ach so. Entschuldigung. Bitte …
Der Arzt kommentierte zuerst mein verbeultes Gesicht, dann anästhesierte er den rechten Augapfel mit einer brennenden Flüssigkeit und entfernte einen winzigen Gegenstand, der in meiner Hornhaut steckte.
– Was Weißes, murmelte er. Was ist Ihnen denn passiert?
– Ein Überfall, sagte ich.
– Eijeijei, machte er.
Seine Hand zitterte ein wenig, während er mit der feinen Pinzette das Objekt hervorkitzelte. Dann hielt er es sich vors Gesicht.
– Merkwürdig … wollen Sie sehen?
Ich gab mir Mühe, so zu tun, als könnte ich sein Angebot ernst nehmen. Die Irritation im rechten Auge legte auch das linke weitgehend lahm. Ich blinzelte hilflos und wischte mit meinem Hemdärmel die Tränen von meiner Wange. Ein Teil der Tränenflüssigkeit rann mir über merkwürdig verschlungene unterirdische Kanäle die Kehle hinab, und ich musste sie schlucken.
Aber plötzlich war es ganz nah, etwas Weißes, sehr groß und sehr nah an meinem Gesicht – ich schrak zurück. Der Arzt beruhigte mich.
– Nur ein bisschen Watte. Keine Angst, das ist nur für ein paar Stunden. Damit das Aug sich beruhigt. Und diese Salbe …
Ich betastete mein Gesicht. Jetzt, da das verletzte, irritierte Auge mit einem großen Wattepad zugeklebt und auch gleich eingeschlafen war, wie ein Kanarienvogel, dessen Käfig man mit einem Tuch verhängt, stellte sich in meinem Kopf die räumliche Orientierung wieder ein. Das Bild wurde scharf.
Der Augenarzt streckte mir die Hand hin. Ich verfehlte sie knapp, schüttelte sie etwas schief und nahm das Rezept in Empfang.
Erst im dunklen Spiegel der Tür konnte ich mich betrachten. Ein weißer Fleck, eine große, runde Augenklappe bedeckte meine rechte Gesichtshälfte. Die Menschenin der Straßenbahn musterten mich. Sogar meine Haustür schien sich vor mir zu fürchten, denn als ich nach der Türklinke griff, wich sie ein wenig zurück.
Welche Eigenschaften schätzt du bei einem Mann?
Auf der Straße sah ich alles verschwommen. Ich taumelte wie betrunken gegen Fußgänger und Ampeln. Am Bahnhof stellte ich mich in einen schlecht beleuchteten Winkel in der großen Ankunftshalle (Dunkelheit tat meinem Auge wohl). In einiger Entfernung bemerkte ich einen Mann mit weißem T-Shirt und einem roten Koffer, der mich anstarrte. Er schien mit meinem Anblick aus irgendeinem Grund überfordert, ja womöglich sogar beleidigt zu sein. Ich blinzelte ihm mit meinem gesunden Auge so unauffällig wie möglich zu; vielleicht würde er sich ja von selbst wieder auflösen. Sein T-Shirt zeigte irgendeine Verbrechervisage. Ich vermied es, seinem Blick zu begegnen, und konzentrierte mich stattdessen auf meine Schuhe, die, mit einem Auge betrachtet, erheblich verkleinert wirkten, was ein leichtes Schwindelgefühl erzeugte, als würde ich ankerlos einige Zentimeter über dem Erdboden schweben. Aber es half nichts, er kam näher.
Ich tat so, als bemerkte ich ihn nicht.
– Alex?
– Äh …
Ich zwinkerte, aber vergeblich, das Bild stellte sich nicht scharf. Ein großer und kräftiger Mann.
– Ich bin’s. Walter.
Er hielt sich eine Faust an die Brust, wie Tarzan.
– Oh, aber ja, sicher, hallo.
Ich wandte ihm mein Gesicht zu und machte ein paar Schritte. Als Walter mich sah, mit dem weiß verklebten Auge und meinem unsicheren, nach rechts pendelndenGang, erschrak er und hielt sich die Hand vor den Mund.
Er nahm mich bei der Schulter. Die plötzliche Berührung jagte mir Angst ein, aber ich traute mich nicht, mich irgendwie zu wehren. Noch war kein Angriff erfolgt, noch war alles, was mit mir geschah, Begrüßung.
– Wie geht’s dir?, fragte er.
– Ach, na ja, nicht so gut.
– Sieht man, sagte er. Tut’s
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