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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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von mir gab, unter.
    – Hast du?, fragte sie und hängte sich bei mir ein.
    Ich hatte heute Vormittag mit meinem Job abgeschlossen, dann hatte ich beim Augenarzt Zeit vertan, außerdem: Was interessierte mich dieser verdammte Film?
    – Nein, hab ich vergessen, sagte ich. Tut mir leid.
    So gut es ging, versuchte ich mit den Achseln zu zucken, aber die Schultern blieben, wo sie waren.
    – Oh, sagte Lydia.
    Ihr Gang wurde steif.
    – Ich war heute den ganzen Tag beim Augenarzt, log ich. Und dann bin ich direkt hierher, im Grunde –
    – Sicher, sagte sie.
    In einem früheren Leben hätte ich gesagt:
Jetzt sei deswegen nicht gleich wütend
. Und sie hätte geantwortet:
Aber ich hab mich die ganze Zugfahrt schon auf den Film gefreut
. Und ich hätte halb beleidigt gescherzt:
Ich mich auf dich auch!
    Jetzt ging sie nur nebenher, ihre Hand löste sich von meinem Arm, pendelte, wanderte in ihre Handtasche: Sie suchte und fand ein Taschentuch.
    – Was musst du auch andauernd, begann sie, dann schnäuzte sie sich, und der Rest des Satzes blieb mir erspart.
    Zuhause hatte sie es ungeheuer eilig, mich zu verarzten. Wir waren mit ihren Eltern zum Abendessen in einem sehr feinen Lokal verabredet.
    – Du bist so ein verdammter Idiot, murmelte Lydia dicht an meinem Ohr. Ausgerechnet heute.
    – Au! Auaah!
    – Muss leider sein.
    – Tut weh.
    – Halt wenigstens still! Ich kann dir das Pflaster nicht draufgeben, bevor die Wunde nicht desinfiziert ist.
    Lydia tupfte meine Wange noch einmal mit dem Taschentuch ab. Bei jeder schmerzhaften Berührung sog ich die Luft durch die Zähne ein.
    – Was musst du dich auch prügeln. So eine überflüssige, männlich-prähistorische Dummheit. Und ausgerechnet heute.
    Ihre Stimme, die trotz ihres verständlichen Zorns recht leise war, hatte etwas ungeheuer Beruhigendes, so nah an meinem beschädigten Gesicht.
    – Wie ich unter ihm gelegen bin, sagte ich, und die anderen versucht haben, ihn von mir runterzuzerren – allerdings nur mit halber Kraft, wie ich vermute –, da hab ich ihn noch angebrüllt, dass er sich nie mit einem Geschichtenerzähler anlegen soll.
    – Und das hat geholfen?
    – Natürlich. Er hat mich fast umgebracht.
    – Ah, eine große Hilfe.
    – Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?
Fast
umgebracht.
    Lydia klebte das Pflaster auf meine Wange. Sie strich es fest.
    – Das ist viel zu fest, sagte ich. Damit kann ich ja nicht einmal mehr über die ganze Angelegenheit schmunzeln. Schau!
    Ich zeigte ihr ein trauriges Lächeln, das nicht gelingen wollte.
    – Wenn man dir so zuhört, könnte man glauben, es hat dir auch noch Spaß gemacht, so verdroschen zu werden.
    – Ich hab ihn auch verdroschen, sagte ich. Ein bisschen zumindest.
    – Ja, toll, ins Schienbein hast du ihn getreten. Großartig. Davon humpelt er bestimmt noch wochenlang.
    – Verbal meine ich.
    – Ach, verbal … bei dem! Da kannst du genauso gut einen Hydranten beschimpfen.
    – Na ja, er ist immerhin rot geworden. Und die anderen haben ihn nicht gedeckt, das hat ihn wahrscheinlich total wahnsinnig gemacht.
    Lydia stellte den Erste-Hilfe-Kasten zurück in den Schrank.
    – Wieso hast du ihn überhaupt attackiert?
    – Einfach so, als … als Feuerwerk.
    – Als Feuerwerk?
    – Ja. Mit Pauken und Trompeten. Du weißt schon.
    – Mein Gott, sagte sie. Du bist wirklich völlig verrückt.
    Sie ging aus dem Zimmer. Ihr Humpeln war ein wenig stärker geworden. Wenn ihre Eltern da waren, verwendete sie nie ihren Stock.
    –
Was ist deine Lieblingsverletzung?
, rief ich ihr nach.
    Vor der Wohnungstür hörte man wieder das Geräusch des Gespensts, ein mehrteiliges Poltern, dann ein Knall. Ich wollte nachsehen gehen, aber ich war zu schnell aufgestanden, und der Raum drehte sich und wurde dunkel. Als die Blutzirkulation wieder in Gang gekommen war, ging ich zur Tür und sah auf den Flur hinaus. Nichts. Stille. In einem anderen Jahrhundert hätte jemand Mehl auf dem Boden verschüttet, um Fußspuren des nächtlichen Besuchers zu sichern.
    Lydia rief aus der Küche:
    – Redest du mit mir?
    Ich nickte, obwohl sie es natürlich nicht sehen konnte.
    Bei dem. Verbal … bei dem
. Wieso sagte sie
Bei dem
? Sie wusste doch nicht einmal, von wem die Rede war. Es war möglich, dass ich schon von Max erzählt hatte, aber es hatte über die Jahre so viele Betreuer gegeben.
    Wie würdest du gerne sterben?
    Sitzend unter einem großen Familien-Esstisch, schwach und unbeweglich wie ein Schaukelpferd, gelehnt an das

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