Die Frequenzen
einzige, zentrale Tischbein, umgeben von Knien, auf denen faltig das Tischtuch ruht, umgeben von nervösen Füßen, die in Schuhen und Haussandalen stecken, und über mir die Essgeräusche, die jahrhundertealten Diskussionen über bevorstehende Hochzeiten, ungünstige Arbeitsbedingungen, kommende und gehende Jahreszeiten und die ewige Uneinholbarkeit mächtiger Menschen; das Lachen der alten Tante, die von Beruf Hospizschwester ist und auf einem Ohr nichts mehr hört und geistesabwesend versucht, es abzunehmen wie einen kaputten Kopfhörer; die nirgends dazupassenden Zwischenrufe der Kinder, die sich entsetzlich langweilen und lieber an einem heißenTag Steine auf leer stehende Fabrikhallen werfen würden; der kurze Streit um das letzte Stück Kotelett und die friedlichen Kompromisse, welche von den ältesten Frauen am Tisch erwirkt werden – das alles über mir, schwebend, eine schirmende Wolke aus vertrauten Stimmen, nur ein paar Zentimeter jenseits der Tischplatte, in deren vollkommenes Schwarz meine Augen starren: Natürlich wäre das die schönste Art zu sterben, in einem Raum voller Menschen, denen man fürs erste die Welt überlassen kann, in deren Gegenwart man sich gleich in Nichts auflösen wird, hier in diesem alten, bei Tag oft durchwanderten Esszimmer, ohne dass sie etwas davon ahnen.
Lydia stammt aus einer sehr alten, weit verzweigten Familie. Alte Familien haben etwas Beruhigendes. Ich war bei einigen der großen Familienzusammenkünfte dabei. Eines dieser Treffen fand in einem Hotel in der Schweiz statt, man hatte eigens einen Trakt des Gebäudes zu diesem Zweck gebucht. Ich war sehr aufgeregt. Lydia stellte mir an diesem Tag mindestens neunhundert Menschen vor, die mich allesamt nach meiner Identität fragten, nach meinen Qualifikationen, meinen Talenten. Es hatte etwas sehr Erregendes, hinterher mit Lydia im Bett zu liegen, mit einer Vertreterin einer uralten, mächtigen Familie, dem geschmeidigen Konzentrat eines meilenlangen Ahnenregisters. Natürlich hatte auch sie das charakteristische Familiengesicht, das mir im großen Festsaal des Hotels überall begegnet war, gespenstisch vervielfacht wie in einem Traum.
Wer ist dein Lieblingsheld aus dem wirklichen Leben?
Der selten gewordene, halb betrunkene Mann in manchen Restaurants, der eine kleine Plastiktüte aufbläst, die Öffnung zuhält, kurz in die Runde schaut und lächelt –und dann: PAFF! Die Gäste schrecken hoch, halb zerkaute Bissen fallen von erstarrten Unterlippen, silbernes Besteck bleibt mitten im Gleitflug zwischen Teller und Mund stehen, Servietten heften sich an Lippen, als klebten sie fest. Menschen verwandeln sich in Blicke.
Ich faltete meine Stoffserviette auf. Bestimmt machte ich es falsch. Nein, natürlich konnte man sie nicht aufblasen, nur auf den Schoß legen, das war alles.
Welche seltsame Empfindung hast du jedes Mal, wenn Lydias versnobte Bilderbucheltern zu Besuch kommen?
Das Gefühl, ein sabberndes Baby zu sein, das bei einer Hunde- oder Katzenschau mitmachen muss, obwohl es doch ein Menschenkind ist. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, ganz einfach, weil ich nicht gut genug bin. An sich ja nichts Schlechtes. Kein Beinbruch, keine Krankheit und auch kein evolutionärer Nachteil. Aber in der Situation … Dieses Ausfragen, diese mit Sicherheit schon auf der Herfahrt im Zug (erster Klasse) vorbereiteten Fragen nach meiner Arbeit, nach meinem Studium, nach mir selbst.
Ja, wer bist du eigentlich? Und warum bist du mit meiner Tochter zusammen? Sicher, ihr kennt euch schon recht lange. War deine erste Frau überhaupt, ja? Niedlich. Dann wird sie auch immer deine Frau bleiben. Bei seiner ersten Liebe bleibt der Mann, er hat gar keine andere Wahl
.
Ich entschuldigte mich und ging auf die Toilette.
Sind SIE verantwortungsvoll?
Ein Schild über einem Kondomautomaten. Luftballone. Clowns.
Während ich urinierte, wählte ich mit einer Hand Valeries Nummer. Ich konnte sie bereits so sehr auswendig, dass in meinem Kopf jedes Mal ein schmerzhaftes, gespenstisches Echo entstand, wenn ich sie wählte. Es läutete mehrere Male, dann wurde das Klingeln um einenViertelton höher, und eine Metallstimme übernahm das Gespräch und bot mir an, eine Nachricht in ihrem unerschöpflichen Gedächtnis zu hinterlassen.
Als ich aus der Toilette kam, fand ich mich in der Nähe der Ausgangstür. Draußen herrliche Abendluft. Freiheit und Straßenverkehr. Die Chance, von einem großen Auto überfahren zu werden. Ich blickte um mich. Von
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