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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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sehr weh?
    – Ein bisschen.
    – Das ist witzig, wir haben uns so lange nicht gesehen. Komm, lass dich einmal drücken.
    Bevor ich protestieren konnte, lag mein Kinn schon auf seiner Schulter. Er klopfte mir auf den Rücken, als wollte er sagen:
Sehr gut, sehr gut hast du das gemacht
. Ich ließ zu, dass meine Hände in etwa dasselbe taten:
Klopf klopf klopf
. Walter atmete tief durch die Nase ein und drückte ein wenig fester zu.
    – Vorsicht, mein Auge …
    Ich hielt die Watte über meinem verletzten Auge fest, um die Tränen aufzuhalten, die sich sofort gebildet hatten. Walters aggressives Rasierwasser hatte sein Teil dazu beigetragen. Mein Auge brannte und tränte und das andere ließ sich mitziehen.
    – Oh, tut mir leid, sagte Walter. Ich hab wohl nicht aufgepasst.
    Er fuhr sich energisch mit der Hand durchs Haar.
    – Nichts passiert, sagte ich mit welker Stimme.
    – Also, erzähl mal, was machst du so?, sagte er.
    – Na ja, nicht viel. Ich hab gerade meinen Job im Altersheim gekündigt. Das war auf Dauer nichts für mich. Und sonst … Beziehungsstress, das übliche Programm eben.
    Gott sei Dank, das Auge hatte sich wieder beruhigt. Aber Walter musterte mich immer noch sehr besorgt. Sein Blick war so unangenehm und durchdringend, dass ich auf den Boden schauen musste.
    – Ich hab meine Arbeit auch verloren, sagte er. Meine Arbeitgeberin hatte einen Unfall.
    – Schlimm, sehr schlimm.
    – Hör zu … wollen wir irgendwo was trinken gehen?, fragte er. Ich würde gern mit dir reden, weil ich –
    – Ein andermal.
    – Ach so, okay …
    – Ich muss jemanden abholen.
    Mit einer unauffälligen, asymmetrischen Geste deutete ich in die Umgebung, das riesige Gebäude des Bahnhofs, in dem wir standen, in dem Menschen auf Menschen warteten. Deswegen war ich hier. Wir hatten uns nur zufällig getroffen. Dieses kleine Detail schien ihm entgangen zu sein.
    – Schon okay.
    Walter wich ein paar Schritte zurück. Als ich an ihm vorbeiging, trat er zur Seite, als würde er rückwärts einparken. Sein Blick verfolgte mich, bis ich die Rolltreppe erreicht hatte. Ich konnte es zwar nicht sehen, aber ich war mir sicher. Seltsamer Kauz, dachte ich. Immer noch derselbe seltsame Kauz.
    Was ist deine Lieblingsbegrüßung?
    – Um Gottes willen, tu dieses Ding weg!
    – Aber ich bin verletzt.
    – Du kannst das nicht aufbehalten, wenn meine Eltern da sind. Du musst es abnehmen!
    – Au! Nein, nicht berühren –
    Sie hob meine Augenklappe an, und der Tixostreifenlöste sich. Lydias Gesichtskonturen strahlten mich an, alles war ungeheuer hell und weiß, ein beleidigend grelles Licht, wie einer dieser blutleeren Mittagshimmel im Winter, die einen mit Melancholie füttern. Da war die kleine Narbe über ihrer Lippe. Ein paar oberflächliche Falten, die mir sonst nie aufgefallen waren. Alles so deutlich, wie ich es gar nicht sehen wollte. Hautporen, für einen Moment blitzten sie auf, als wollten sie mir zeigen, dass sie tatsächlich existierten, jede Einzelne. Sie war eine hübsche Frau, die so alt war wie ich – und älter wurde.
    Mein Auge beruhigte sich.
    – Nicht reiben!
    Lydia zog an meiner Hand, die automatisch in mein Gesicht gewandert war. Damit ich mich nicht kratzte, hielt sie die Hand noch fest, als wir bereits losgegangen waren.
    Schließlich mussten wir noch einmal umkehren, weil wir ihre beiden Koffer stehen gelassen hatten.
    Welche Eigenschaften schätzt du bei einer Frau?
    – Du meine Güte, wie sehen wir denn aus?
    Lydias Mutter hatte sich von hinten angeschlichen.
    – Hallo.
    – Hallo.
    Wir reichten uns die Hände. Michael, Lydias Vater, kam hinzu. Er hatte einen blauen Rollkoffer an der Hand, der ihm betrunken nachtorkelte.
    – Hallo, Alex. Oh, was ist denn –
    – Nichts weiter, sagte Lydia. Wir sehen uns dann nachher, oder?
    – Ja, schon, sagte ihre Mutter, aber –
    – Wir müssen vorher noch kurz was erledigen, sagte Lydia und zog mich am Arm davon. Fahrt ihr nur schon mal ins Hotel.
    – Okay, sagte ihre Mutter und hielt einen Daumen hoch.
    Michael stand etwas unschlüssig am Bahnsteig und setzte sich erst in Bewegung, als seine Frau ihn am Arm berührte.
    Ich winkte ihnen hinterher, so hampelmannartig, wie ich konnte.
    Was wäre deiner Meinung nach das größte aller Unglücke?
    – Hast du mir den Film aufgenommen?, fragte Lydia.
    Ich trug ihre beiden Koffer, so hatten meine Hände wenigstens etwas zu tun. Mein schuldbewusstes Grunzen ging in dem Stöhnen, das ich aufgrund des Gewichts der Koffer

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